Belastungen und Risiken im weiblichen Kunstturnen - Pädagogische Ebene

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Bibliographische Detailangaben
Leiter des Projekts:Meinberg, Eberhard (Deutsche Sporthochschule Köln / Pädagogisches Seminar, Tel.: 0221 4982-450, frei at hrz.dshs-Koeln.de)
Mitarbeiter:Thiele, Jörg; Lüsebrink, Ilka; Frei, Peter
Forschungseinrichtung:Deutsche Sporthochschule Köln / Pädagogisches Seminar
Finanzierung:Bundesinstitut für Sportwissenschaft (Aktenzeichen: 080202/96-98)
Format: Projekt (SPOFOR)
Sprache:Deutsch
Projektlaufzeit:10/1995 - 10/1998
Schlagworte:
Erfassungsnummer:PR019970105639

Zusammenfassung

Beschreiben des Feldes des weiblichen Kunstturnens;
Verstehen des Feldes des weiblichen Kunstturnens;
Beraten des Feldes des weiblichen Kunstturnens (Handlungsstrategien für TrainerInnen; Fortbildung, Ausbildung; Trainerin- Athletin-Verhältnis).

(Zwischen)Ergebnisse

Ausführlicher Zwischenbericht liegt im BISp vor. Nachtrag aus BISp-Jahrbuch 1998: Das weibliche Kunstturnen ist ohne Zweifel eine Sonderwelt, die nicht nur hochkomplex, sondern gleichzeitig hochindividualisiert ist, und der man sich nicht mit pauschalen Betrachtungen oder gar Verurteilungen nähern kann. Um z.B. die Handlungsweisen von TrainerInnen und Athletinnen nachvollziehen, die jeweiligen zugrundeliegenden Motive verstehen zu können, müssen ganz unterschiedliche Anforderungen in den Blick geraten. So läßt sich unterscheiden in: Anforderungen durch vorhandene Systembedingungen des Hochleistungssports. Man denke nur an den Code von Sieg oder Niederlage, Erfolg oder Mißerfolg, der maßgeblich und zunehmend auch über die Verteilung von Ressourcen entscheidet. Belastungspotentiale, die den Kunstturnerinnen aus der Konkurrenz des Systems Hochleistungssport mit einem gesellschaftlichen Feld wie 'Schule' erwachsen (zur Logik des Hochleistungssports vgl. Bette/Schimank 1995). Spitzenathletinnen erreichen leicht zeitliche Belastungsumfänge von 60 bis 65 Stunden pro Woche allein durch Schule und Training. Hinzuzurechnen sind noch Zeiten für Essen, Hausaufgaben und häufig auch noch Fahrtzeiten. Bedeutung von Gesundheit und Verletzungen. Durch verletzungsbedingte Pausen und/oder manifeste gesundheitliche Probleme entstehen zusätzliche Belastungen. Die permanente Zeitknappheit im Kunstturnen im Hinblick auf das Erreichen von Höchstleistungen gwinnt an Brisanz. Denn das Karriereende fällt häufig mit dem Zeitpunkt der Volljährigkeit zusammen und nur wenige Turnerinnen sind noch jenseits des 18. Lebensjahres in der Spitze. Forderungen nach einer ausgewogenen Persönlichkeitsentwicklung der Athletinnen, nach Mündigkeit gerade auch für die Zeit nach dem Hochleistungssport. In diesem Kontext wird von Politik, Medien und Gesellschaft auch gerne ein "humaner" Hochleistungssport eingeklagt, der auf die Bedürfnisse der Aktiven Rücksicht zu nehmen habe. Die Befriedigung aller Anforderungen ist beinahe unmöglich; entscheidend ist dabei immer auch folgendes: Bezogen auf die leitende Frage nach den Belastungen sind die erwähnten Anforderungen in engem Zusammenhang mit den jeweils zur Verfügung stehenden Ressourcen zu ihrer Bewältigung zu sehen. (vgl. auch Brettschneider/Richartz 1996). Belastungen werden individuell sehr unterschiedlich erlebt, unter Umständen gar nicht als 'Belastung' definiert - gerade für sogenannte "objektive" Belastungen (z.B. zeitliche) ist eine genaue Analyse individueller Einschätzungen und Deutungen der Aktiven notwendig. Die Ressourcen zur Bewältigung von Belastungen sind entscheidend an sozial-kommunikative Kompetenzen von TrainerInnen, aber auch von Turnerinnen geknüpft. Das betrifft die alltägliche Arbeit am Gerät, die Gestaltung einer positiven Atmosphäre in der Halle oder aber den Austausch über kunstturnübergreifende Themen. Sich solchen Kompetenzen zu widmen, ist keine Frage des Luxus, sondern mit ihnen werden immer auch Motivation, Effektivität und Erfolg im Trainings- und Wettkampfprozeß mitentschieden. An dieser Stelle lassen sich dann, bezogen auf konkrete Einzelfälle und spezifische Bewältigungsstrategien, Beratungsleistungen von seiten der Sportpädagogik einbringen. Pauschalisierende Verurteilungen, aber auch Verherrlichungen des weiblichen Kunstturnens sind nicht angebracht und führen auch nicht weiter. Nach den bisherigen Erkenntnissen besteht wenig Anlaß zu der Annahme, daß in dem untersuchten Bereich pädagogisch nicht legitimierbare Prozesse ablaufen, wobei, das wissen aber gerade auch die Beteiligten, die Grenzen zur Überlastung gefährlich nahe rücken. Wer die unterschiedlichen und komplexen Anforderungen im weiblichen Kunstturnen in ausgewogenem Maße bewältigen und an einer "Humanisierung" arbeiten will, sieht sich vor keiner leichten Aufgabe. Als ein Lösungsansatz bietet sich sicherlich eine sozial-kommunikative Kompetenzerweiterung der Beteiligten an, um letztlich normierte Wege des Erfolgs zu hinterfragen. Doch damit nicht genug: Eine derartige Kompetenzerweiterung verpufft, wenn entsprechende Abfederungsprozesse und Vermittlungsschritte auf systemischer (institutioneller) Ebene fehlen - dies geht an die Adresse von Verband und Funktionären. Die oft geforderte Hinwendung zu den Sozialkompetenzen von TrainerInnen bestätigt sich. Fortbildungen zum Thema interaktionalen und motivationalen Handelns und die Rückmeldungen der Aktiven selbst haben dies gezeigt. In Zukunft könnte dieses Expertenwissen im Rahmen systematischer Beratungsmaßnahmen zu einer teilweisen Auflösung der genannten Belastungspotentiale genutzt werden.