Der "papierene" Tänzer: Matthias Sindelar, ein Wiener Fußballmythos

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Bibliographische Detailangaben
Autor:Maderthaner, Wolfgang
Erschienen in:Die Kanten des runden Leders: Beiträge zur europäischen Fußballkultur
Veröffentlicht:Wien: Promedia Verlag (Verlag), 1991, S. 203-216, Lit.
Format: Literatur (SPOLIT)
Publikationstyp: Sammelwerksbeitrag
Medienart: Gedruckte Ressource
Sprache:Deutsch
Schlagworte:
Online Zugang:
Erfassungsnummer:PU200712003493
Quelle:BISp

Abstract

Die Kindheit des österreichischen Fußballspieler Matthias Sindelar (geb. am 10. Februar 1903) entsprach in vielerlei Hinsicht geradezu idealtypisch der eines sog. Gassenjungen, also jener Vorstadtkinder, die sich – bedingt durch eine mehr oder weniger prekäre Wohnsituation – „ihre“ Gassen und Plätze als Spielorte im Sinne einer „Gegenöffentlichkeit“ aneigneten. Der infolge völlig unzureichender Ernährung überaus schwächlich entwickelte Sindelar zeichnete sich bald durch außergewöhnliche Virtuosität im Umgang mit dem Ball aus; insbesondere durch seine Fähigkeit, vermittels gekonnter Ballführung und Dribblings körperlich weit überlegene Gegner spielerisch leicht aussteigen zu lassen. Hier liegen bereits die Wurzeln des späteren durch Körperlosigkeit gekennzeichneten sog. Scheiberlspiels, einer Spielauffassung, die unter der Bezeichnung „Wiener Schule“ in den 1930-er Jahren Weltgeltung erlangte und für die der Name Matthias Sindelar zum Synonym wurde. Als dominierende Spielerpersönlichkeit des späteren sog. Wunderteams traten zum körperlosen Spiel noch Witz, Leichtigkeit und Einfallsreichtum hinzu. Der „Papierene“ wurde zum Markenzeichen, Wie kein anderer prägte Sindelar den Stil der Wiener Schule. Sindelar entwickelte das Fußballspiel zur Ballästhetik, zur hohen Kunst; er „interpretierte“ das Spiel, ähnlich wie große Schauspieler ihre Rolle gestalten, er entwarf auf dem Rasen meisterhaft durchdachte, komplexe in sich geschlossene Skizzen, Parabeln und Kurzgeschichten, ähnlich den Größen der Wiener Kaffeehausliteratur. Von Frühjahr 1931 bis Ende 1932 erzielte das „Wunderteam“ in 18 Repräsentativspielen 15 Siege und drei Unentschieden. Die wichtigsten sieben Länderspiele gegen die besten Mannschaften Europas brachten fünf Siege mit einem Torverhältnis von 37:9. Das beste und in seiner „klassischen Besetzung“ auch das letzte Länderspiel des „Wunderteams“ allerdings ging mit 3:4 knapp verloren. Die Engländer, die zu dieser Zeit noch in ihrer „splendid isolation“ verharrten und auf heimischem Boden als unschlagbar galten, hatten die Österreicher als bestes kontinentaleuropäische Team und dritte ausländische Mannschaft überhaupt für würdig befunden, zu einem „Herausforderungsmatch“ in Stamford Bridge am 7.12.1932 anzutreten. In seltener Einmütigkeit konzedierte die englische Presse, dass das bessere Team verloren habe. Nach diesem Spiel zerfiel das „Wunderteam“. Zwar blieb Sindelar als Spielführer erhalten und es konnten auch weiterhin beachtliche Erfolge erzielt werden. Die Weltmeisterschaft 1934 in Italien wurde entgegen allen Erwartungen aber nicht gewonnen, sondern mit dem 4. Platz abgeschlossen. Nach diesen Weltmeisterschaften zog Sindelar sich mehr und mehr vom Team zurück. Seine Abschiedsvorstellung im Vereinsfußball gab er am 26. Dezember 1938 in Berlin gegen die dortige Hertha; Sindelar erzielte für die Wiener Austria den Ausgleichstreffer zum 2:2. Am Morgen des 23. Januar 1939 wurde Sindelar tot in seinem Bett gefunden. Als Todesursache wurde Kohlenoxydgasvergiftung. Die Frage Mord, Selbstmord oder Unglücksfall wurde nie gelöst, obwohl die letztgenannte Ursache die wahrscheinlichste ist. Schiffer (unter Verwendung wörtlicher Textpassagen)