Fußball ist für uns Krieg - Mythologie und Wirklichkeit des Fußballrowdytums

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Bibliographische Detailangaben
Autor:Seifert, Michael J.
Erschienen in:Fußball in der Kunst: Pfalzgalerie Kaiserslautern, 15. Oktober bis 26. November 1989; Leopold-Hoesch-Museum Düren, 10. Dezember 1989 bis 21. Januar 1990
Veröffentlicht:Kaiserslautern: Graphische Kunstanstalt Georg Gehringer (Verlag), 1989, S. 23-33
Herausgeber:Pfalzgalerie Kaiserslautern
Format: Literatur (SPOLIT)
Publikationstyp: Sammelwerksbeitrag
Medienart: Gedruckte Ressource
Sprache:Deutsch
Schlagworte:
Online Zugang:
Erfassungsnummer:PU200608002037
Quelle:BISp

Abstract

Verf. vertritt die Auffassung, dass Fußballhooligans durch übertriebene Aufmerksamkeitszuwendung und verzerrende Berichterstattung mit gewalttätigen Schlägertrupps gleichgesetzt und zu Untermenschen degradiert werden. Auf diese Weise hat sich in der Öffentlichkeit ein Vorstellungskomplex des Hooligan herauskristallisiert, der als mythologisch bezeichnet werden kann – eine massenmedial gesponnene Mythologie des Fußballrowdytums. Insgesamt handelt es sich um sieben Mythen: 1. Mythos: Fußballrowdytum ist ein zeitgeschichtlich neues Phänomen, das erstmals in den frühen 60er Jahren auftrat. Diesem Mythos steht folgende Tatsache gegenüber: Die Geschichte des Fußballs ist eine Geschichte des Aufruhrs, der gewalttätigen Ausschreitungen und des von der jew. Obrigkeit bestraften abweichenden Verhaltens und geht nachweislich bis in das 14. Jahrhundert zurück. 2. Mythos: Fußballrowdies sind rücksichtslose, irrationale und manisch-besessene Banden von Jugendlichen. Diesem Mythos steht folgende Tatsache gegenüber: Weit davon entfernt, einfach irrational und ohne Sinn zu sein, befriedigt das Verhalten der Hooligans eine Reihe elementarer menschlicher Bedürfnisse, die für diese Jugendlichen entsprechend ihrer psychosozialen Situation ganz entscheidend sind: z. B. Tollkühnheit, Wagemut, daneben aber auch Solidarität und Loyalität in der eigenen Gruppe. Das Verhalten der Hooligans bietet eine Möglichkeit der emotionalen Spannungsabfuhr und versorgt die Hooligans mit einem Zugehörigkeitsgefühl, sozialer Anerkennung und Identität. 3. Mythos: Hooligans sind Gewalttäter, die am Spiel überhaupt nicht interessiert sind und von den eigentlichen Fußballfans eindeutig unterscheidbar sind. Diesem Mythos steht folgende Tatsache gegenüber: Eine klare Trennung nach Motiven ist für die Stadionbesucher nicht feststellbar; die Übergänge sind fließend. Es hängt häufig von bestimmten Situationen und Bedingungen ab, in denen Fußballfans bereit sind, Gewaltanwendung zu zeigen, z. B. vom Spielstand, bei Schiedsrichterentscheidungen, Aggressivität von Spielern oder gegnerischen Fans, aber auch die besondere Wichtigkeit eines Spiels und traditionelle Vereinsrivalitäten sind bedeutsam. 4. Mythos: Arbeitslose, den untersten sozialen Schichten angehörende Jugendliche sind für das Fußballrowdytum verantwortlich. Diesem Mythos steht folgende Tatsache gegenüber: Nahezu alle als gewalttätig auffallende Jugendliche gehen einer geregelten Beschäftigung nach. Es gibt auch Hinweise, dass Hooligans nicht in das grobe Schema von Unter- und Mittelschicht hineinpassen. Viele von ihnen rekrutieren sich aus einer Vielzahl sozialer Herkunftsmilieus und üben durchaus vergleichsweise qualifizierte Berufe aus. 5. Mythos: Die Hauptursache für die Zuschauerausschreitungen liegt in der gestörten Persönlichkeitsentwicklung der Fußballrowdies begründet. Diesem Mythos steht folgende Tatsache gegenüber: Irgendwelche typische Persönlichkeitseigenschaften der Hooligans können gewalttätige Handlungen nicht erklären. Ursache sind vielmehr die realen Erfahrungen der Jugendlichen im Umgang mit gesellschaftlichen Institutionen und die damit verbundenen Probleme und Konflikte; die Alltagsschwierigkeiten der Jugendlichen, die schmerzhafte Spuren und angstauslösende Erfahrungen von sozialer Isolation, Ohnmacht und Bindungsverlusten in Gleichaltrigengruppen beinhalten können. 6. Mythos: Fußballrowdytum ist im Wesentlichen ein Disziplin- und Ordnungsproblem – Strafe und Kontrolle sind immer noch die beste Antwort. Diesem Mythos steht folgende Tatsache gegenüber: Nach den bisherigen Erfahrungen der Fan-Projekte wirkt die Fixierung auf Polizei und Strafe kontraproduktiv, weil erfahrungsgemäß die Sensibilität und das Nachdenken über mögliche dahinterstehende Ursachen verloren gehen. Darüber hinaus besitzt die Abschreckungstaktik nach dem heutigen Forschungsstand zu abweichendem Verhalten eher die Tendenz, das gewalttätige Handeln zu begünstigen. 7. Mythos: Fußball-Hooligans sind Neo-Nazis. Diesem Mythos steht folgende Tatsache gegenüber: Wenn Hooligans „Schalke nach Auschwitz“ wünschen, gegnerische Fans „in die Gaskammer“ brüllen, den Schiedsrichter mit „Judenschwein“ titulieren, dann geschieht das meist nicht aus ideologischen Gründen, sondern als Provokation. Die Fußballhooligans erscheinen Verf. in mancher Hinsicht als die Nachfahren der spätmittelalterlichen Volksfußballer, denen das Spiel seinen Ursprung verdankt: ein urbanes Gegenstück zum mittelalterlichen Spiel, eingebettet allerdings in weitaus kompliziertere und zivilisiertere Formen. Fußball hat immer schon etwas Oppositionelles, Chauvinistisches an sich gehabt. Fußball war und ist die symbolische Repräsentation einer bestimmen Gemeinschaft (Stadtteil, Stadt, Nation), wodurch sowohl die Identifikation mit der eigenen als auch die Aversion gegen die andere Gruppe oder Mannschaft angeheizt wird. Oder wie es ein Hooligan formulierte: „Fußball ist für uns Krieg.“ Schiffer (unter Verwendung wörtlicher Textpassagen)