Von der Fußlümmelei bis zum Massensport - Fußball im Westen bis 1945

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Bibliographische Detailangaben
Autor:Claßen, Ludger; Goch, Stefan
Erschienen in:Wo das Fußballherz schlägt: Fußball-Land Nordrhein-Westfalen
Veröffentlicht:Essen: Klartext-Verl. (Verlag), 2006, S. 16-36
Format: Literatur (SPOLIT)
Publikationstyp: Sammelwerksbeitrag
Medienart: Gedruckte Ressource
Sprache:Deutsch
Schlagworte:
Online Zugang:
Erfassungsnummer:PU200607001562
Quelle:BISp

Abstract

Das Verhältnis von Arbeiterschaft und Fußball scheint insbesondere im (proletarischen) Ruhrgebiet schon immer sehr eng gewesen zu sein. Das Geschehen auf den Sportplätzen wird oft als „Malocher-Fußball“ bezeichnet. Sowohl im Revier selbst als auch in der übrigen Republik gilt die Gleichung: „Ruhrgebiet gleich Arbeit gleich Fußball.“ Auch wenn die Erfolgsgeschichte des Fußballs rückblickend so erscheint, war der Fußball jedoch um die Wende zum 20. Jh. alles andere als ein Arbeitersport. Fußball wurde im ausgehenden 19. Jh. bis in die 1920er Jahre in erster Linie von Oberschülern, Angestellten und Akademikern gespielt. Auch eine direkte Übertragung des Fußballspiels von den englischen Fußballpionieren in die entstehende Malochergegend zwischen Ruhr und Emscher ist nicht nachweisbar. Auch im entstehenden Ruhrgebiet waren es Oberschüler eines Duisburger Gymnasiums, die Fußball als Alternative zum militärähnlich strengen Turnen nutzten – erstmalig nachgewiesen für 1883. Es waren dann Schüler des Wittener Realgymnasiums, die mit dem Wittener FC 92 den ersten Fußballverein gründeten und überhaupt erst im Jahr 1900 dazu übergingen, Schüler anderer als höherer Bildungseinrichtungen (Volksschulen) aufzunehmen. Bis in die 1920er Jahre dominierten im Westen drei Vereine, in denen Arbeiter bestenfalls am Rande eine Rolle spielten: der Duisburger Spielverein, ETB Schwarz-Weiß Essen und der Duisburger Sport-Club Preußen. Die Erklärung der Entwicklung des Fußballs von der aristokratisch-bürgerlichen Exklusivität zum Massenphänomen durch die sich mit der Industrialisierung vollziehenden Veränderungen in der Arbeitswelt greift genauso zu kurz wie der Gründungsmythos des Fußballs im Ruhrgebiet, der besagt, das „wilde Kicken“ auf Straßen und Hinterhöfen sei adäquater Ausdruck des Lebensgefühls und habe den Fußball quasi naturwüchsig hervorgebracht. Der Siegeszug des Fußballs kann nicht einfach auf die Durchsetzung des Achtstundentages und das größere Freizeitbudget der Arbeiter zurückgeführt werden. Der Achtstundentag wurde nämlich erst 1923 eingeführt, der Siegeszug des Fußballs setzte hingegen bereits direkt nach Ende des Ersten Weltkriegs ein. Dies ist das erste Indiz für andere historische Faktoren außerhalb der industriellen Arbeitswelt. Tatsächlich nämlich war die Initialzündung für den Siegeszug des Fußballs der Erste Weltkrieg. Aktive Spieler wie sachkundige Zuschauer hatten in der Etappe hinter der Front des Weltkriegs nachhaltige Erfahrungen mit dem Fußball gemacht. Gerade auch die (niederen) Offiziere des Heeres begeisterten sich für den Fußballsport und verbreiteten ihn. Indem das Militär den Fußball in den Kampfpausen des Weltkriegs zur Unterhaltung und Ablenkung sowie als Sport- und Trainingsmaßnahme einsetzte, kamen Millionen Männer mit dem Fußballsport in Berührung und der Fußball verlor die Reste bürgerlicher Exklusivität. Damit soll nicht bestritten werden, dass der nachhaltige Erfolg des Fußballs im Ruhrgebiet eine soziale Basis in der Arbeiterschaft hatte. Das gewachsene Freizeitbudget in der Weimarer Republik schuf ohne Zweifel günstige Voraussetzungen für den Siegeszug des Fußballs. Vor allem kam der Fußballsport der Arbeiterschaft entgegen, weil er mit seinem hohen körperlichen Einsatz einerseits mit bekannten Verhaltensweisen korrespondierte und andererseits Ergänzung und Ausgleich zur körperlichen Arbeit war. Dabei entsprach er dem gängigen Körpergefühl und den männlichen Selbstbildern von Härte, Kraft und auch Gewaltanwendung. Auf seine Art reproduzierte und ergänzte der Fußball den Arbeitsalltag der Arbeiterschaft im Industriezeitalter. Die 1920er Jahre waren dann auch die Zeit, in der „der Westen“ bzw. Rheinland-Westfalen (das spätere Nordrhein-Westfalen) als Fußballregion seinen Aufstieg erlebte. Mitverantwortlich (aber eben nicht zentral) für die Ausbreitung des Fußballs unter den Arbeitern waren die in der revolutionären Anfangsphase der Weimarer Republik erreichten Arbeitszeitverkürzungen, die es vielen Arbeitern überhaupt erst erlaubten, einer sportlichen „Freizeitbeschäftigung“ nachzugehen oder sich für den Fußball zu begeistern. Bereits in den 1920er Jahren war der Fußball zu einer Sache geworden, bei der es durchaus auch um viel Geld ging. Vor dem Hintergrund der Kommerzialisierung tobte seit Ende der 192oer Jahre im DFB eine Auseinandersetzung um die Zulassung des Profispielbetriebs in Form einer Reichsliga. Erst der Nationalsozialismus beendete diese Auseinandersetzung mit der Aufrechterhaltung des Amateurprinzips, das in der Praxis allerdings vielfältig unterlaufen wurde, und einer Reorganisation des Spielbetriebs mit einer Neuordnung der Spielklassen. Die Nationalsozialisten erkannten die Bedeutung des Massenzuschauersports Fußball und bemühten sich, dessen Popularität für ihre Zwecke zu nutzen. Im Westen ist der FC Schalke 04 ein Paradebeispiel für die Instrumentalisierung des Fußballs (1934, 35, 37, 39, 40 und 42 Deutscher Meister). Wie die breite Mehrheit der deutschen Bevölkerung verhielten sich auch die Schalker Akteure loyal gegenüber dem „Dritten Reich“, passten sich an und ließen sich gerne für ihre sportlichen Erfolge feiern. In der Nachkriegszeit tat der DFB sich ausgesprochen schwer, sich den dunklen Zeiten seiner Vergangenheit zu stellen. Erst angesichts der öffentlichen Kritik im Anschluss an seinen 100. Gründungstag im Jahr 2000 beauftragte man im Dezember 2001 einen Historiker, die DFB-Geschichte während des „Dritten Reichs“ zu erforschen. Die Ergebnisse wurden 2005 publiziert und stellen differenziert die Stellung des Fußballs bzw. im engeren Sinne der Führung des deutschen Fußballsports zwischen „Verführung und Gewalt“ sowie „Lockerung und Zwang“ dar. Organisationsegoismus, wirtschaftliche Interessen und individuelle Ambitionen seien – trotz der „Gegensätzlichkeit“ des DFB zum Nationalsozialismus – als Ursachen der Anpassung an den Nationalsozialismus zu sehen (Havemann, 2005). Der Nationalsozialismus hat gezeigt, wie sich der Fußball und der Sport insgesamt instrumentalisieren lassen und dass es einen unpolitischen Sport nicht gibt. Schiffer (unter Verwendung wörtlicher Textpassagen)