"Ein Fußballmatch ist kein Symphoniekonzert!" Die Fußballspiele und ihr Publikum im spätzarischen Russland 1901-1913

Gespeichert in:
Bibliographische Detailangaben
Autor:Emeliantseva, Ekaterina
Erschienen in:Überall ist der Ball rund : zur Geschichte und Gegenwart des Fußballs in Ost- und Südosteuropa ; die Zweite Halbzeit
Veröffentlicht:Essen: VDM (Verlag), 2008, S. 13-43, Lit.
Format: Literatur (SPOLIT)
Publikationstyp: Sammelwerksbeitrag
Medienart: Gedruckte Ressource
Sprache:Deutsch
Schlagworte:
Online Zugang:
Erfassungsnummer:PU200812004527
Quelle:BISp

Abstract

Die Frühphase des Sports in Russland wurde in der Forschung bislang zwar nicht ausreichend, aber doch in mancherlei Hinsicht kontrovers diskutiert. Louise McReynolds sprach in ihrer Monographie zur Freizeitgestaltung im ausgehenden Zarenreich („Russia at Play. Leisure Activities at the End of the Tsarist Era“, Ithaca/London, 2003) auch dem Sport und darunter dem Fußball eine „demokratisierende“ Wirkung auf die immer noch weitgehend ständisch verfasste Gesellschaft des ausgehenden Zarenreichs zu. Für Peter Frykholm („Soccer and Social Identity in Pre-Revolutionary Moscow“, in: Journal of Sport History 24, H. 2, 1997, S. 143-154) dagegen trug gerade das Entstehen des Arbeiterfußballs in Russland eher zur Verstärkung der „Klassengegensätze“ bei. Dem Rückständigkeitsparadigma folgend würdigt Victor Peppard („The Beginnings of Russian Soccer“, in: Stadion 8/9, 1982/83, S. 151-168) die Leistung des Fußballs in Russland als „europäisches Phänomen“, dass die Europäisierung Russlands massiv vorangebracht habe. Dem hält Dittmar Dahlmann („Vom Pausenfüller zum Massensport. Der Fußballsport in Russland von den 1880er Jahren bis zum Ausbruch des Esten Weltkrieges 1914“, in Dahlmann, Dittmar/Hilbrenner, Anke/Lenz, Britta (Hrsg.), „Überall ist der Ball rund. Zur Geschichte und Gegenwart des Fußballs in Ost- und Südosteuropa“, Essen 2006, S. 15-39) Verf. zufolge zu Recht entgegen, dass Fußball als Teil der modernen urbanen Kultur überall auf dem europäischen Kontinent ein Novum war und Russland in dieser Beziehung keine Sonderstellung einnahm. Eine generelle Schwäche der bisherigen Argumentation sieht Verf. darin, dass die am Fußballgeschehen partizipierenden sozialen Gruppen bisher nicht näher untersucht wurden und die zeitgenössische oder sowjetische Einschätzung manchmal unkritisch übernommen wurde. Vor diesem Hintergrund besteht das Ziel dieses Aufsatzes darin, eine differenzierte Sicht auf die Anfänge des Fußballs als Teilnehmer- und Zuschauersport im ausgehenden Zarenreich zu geben – „jenseits der pauschalen Annahmen von ‚Klassenkampf’ und ‚Europäisierung’“. Im Zentrum der Betrachtung stehen dabei die soziale Zusammensetzung sowie die Interaktion zwischen Publikum und Spielern. Als Quellengrundlage dient vornehmlich die zeitgenössische russische Sportpresse, die sich seit der Jahrhundertwende allmählich entwickelte und nach der Revolution 1905/07 einen Aufschwung nahm. Herangezogen wurden in erster Linie Zeitschriften und Zeitungen, die zwischen 1900 und 1914 in St. Petersburg und Moskau herausgegeben wurden und regelmäßig über Fußball berichteten. Die Analyse zeigt, dass die Anfänge des Fußballs in St. Petersburg und Moskau grundsätzlich nicht anders verliefen als im übrigen Europa: „Die Verbreitung des Spiels von den geschlossenen Gentleman-Vereinen in die breiteren Massen waren begleitet von unterschiedlichen Selbstfindungsprozessen einzelner sozialer Gruppen und Individuen, für die das Fußballspiel unterschiedliche Funktionen einnehmen konnte. Pauschal lässt sich dabei weder eine ‚demokratisierende’ Wirkung dieses Spiels auf die russische Gesellschaft beobachten, die eine Überwindung der ständischen und sozialen Grenzen herbeigeführt hätte, noch eine Verstärkung der ‚Klassengegensätze’ oder eine ‚Europäisierung’ durch dieses Spiel. Denn Fußball als ‚elitär’ verstandenes Spiel der bürgerlichen Schichten konnte die Abgrenzungsmechanismen nach unten aktivieren. Als ‚demokratisch’ verstandenes Spiel, daß weder teurere Geräte noch Einrichtungen bedarf, konnte es allerdings zum Ausdruck identitätsstiftender Prozesse bei den sozial benachteiligten Schichten werden. Wenn der Fußball auch für bestimmte Gruppen der bürgerlichen Sportamateure sehr wohl eine Partizipation am ‚europäischen Fortschritt’ bedeutete [...], lassen sich diese Identifikationen nicht auf andere Gruppen übertragen, für die möglicherweise vor allem der Unterhaltungswert des Spiels im Mittelpunkt des Interesses stand. Fußballbezogene Identifikationen waren dabei plastisch, zu einem hohen Grad situativ und komplementär zu anderen Zugehörigkeitsgefühlen und Bindungen.“ Schiffer (unter Verwendung wörtlicher Textpassagen)