Fußball in Brasilien

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Bibliographische Detailangaben
Autor:Schröder, Ulfert; Müller, Werner-Johannes
Erschienen in:Fußball-Weltgeschichte. 1846 bis heute. Bilder, Daten, Fakten
Veröffentlicht:München: Copress Verl. (Verlag), 2002, S. 47-53, Lit.
Format: Literatur (SPOLIT)
Publikationstyp: Sammelwerksbeitrag
Medienart: Gedruckte Ressource
Sprache:Deutsch
Schlagworte:
Online Zugang:
Erfassungsnummer:PU200306001347
Quelle:BISp

Abstract

In Brasilien, wo Indios, Mestizen, Mulatten und Neger weitgehend integriert sind und nicht durch rassische, wohl aber durch soziale Schranken vom Wohlstand ferngehalten werden, hat der Fußball im öffentlichen Leben und als Beruhigungs- und Betäubungsmittel für das Volk eine gemessen an europäischen Maßstäben unvorstellbar gewichtige Position erlangt. Für die schwarzen Bewohner der Elendsquartiere, der Favelas, gab es keine Möglichkeit, ein menschenwürdiges Leben zu führen, bis sie den Fußball und der Fußball sie entdeckte. Sehr bald nach der Befreiung von der Sklaverei im Jahre 1888 nahm der Klub FC America Manteiga den ersten Farbigen in seine Mannschaft auf. Kurz darauf begann der Stern des ersten brasilianischen Fußballhelden zu glänzen. Der Mann hieß Arthur Friedenreich und war der Sohn eines Hamburger Ingenieurs und einer brasilianischen Negerin. Friedenreich starb 1969 im Alter von 77 Jahren. Er hatte seine 25jährige Karriere im deutschen Klub von Sao Paulo begonnen, er schoss in 945 Spielen 1329 Tore und die Brasilianer behaupten, die Mischung aus deutscher Gründlichkeit und afrikanischer Geschmeidigkeit sei das Geheimnis der großen Fußballkunst Friedenreichs gewesen. Er durfte als einer der ersten Nichtweißen in der brasilianischen Nationalelf spielen und wurde auf diese Weise ein Symbol des Gedankens der Rassenintegration. Als dann der Professionalismus eingeführt wurde, war für die stets als Untermenschen abqualifizierten Bewohner der Favelas endlich das Ventil ihrer Tagträume und Wünsche geöffnet. Fußballspieler war der erste und lange Zeit einzige Beruf, in dem die jungen männlichen Bewohner der Favelas nach der Befreiung auch die Vorteile eines freien Lebens gewinnen konnten. Innerhalb weniger Jahre waren die größten Fußballstars ausschließlich Neger und Mulatten. Charakteristisch für die brasilianische Gesellschaft ist weiterhin der sog. Macumba-Kult, der sich mittlerweile durch die Versachlichung und Materialisierung des Lebens auch in Brasilien immer mehr zum Fußball hinwendet als einem Spiel, in dem unerklärliche und rätselhafte Glücks- oder Pech-Zufälle gerade herausfordern, an mystische Ursachen oder geheimnisvolles Wirken der Gottheiten zu glauben. Die großen Vereine wenden die Bereitschaft ihrer Spieler, an Übersinnliches zu glauben, mittlerweile recht ernsthaft an und koppeln diese Gepflogenheit mit dem Einsatz modern ausgebildeter Psychologen, die wissenschaftliche Erkenntnisse sauf dem Umweg über Altäre und Weihwasserbecken anzuwenden verstehen. Christlicher Glaube, Geisterbeschwörung und Götzenanbetung haben dazu beigetragen, dem Fußball den Geruch einer kultischen Handlung zu geben. Auf diese Weise wurde dieses Spiel fest im Bewusstsein der ganzen Bevölkerung verankert. Fußball in Brasilien ist nicht nur ein Amüsement für Millionen, sondern es ist eine öffentliche Angelegenheit. 1958, anlässlich der Weltmeisterschaft in Schweden, erfuhr die Welt erstmals, was brasilianischer Fußball bedeutet. Von nun an wurde er auf dem grünen Rasen zum Maß aller Dinge und insbesondere ein junger Spieler wurde als Messias des Fußballs gefeiert, weil er einer der erfolgreichsten Choreographen dieser Fußball-Samba war: Pelé. In der Folge wurde Brasilien noch viermal Weltmeister: 1962, 1970, 1994 und zuletzt 2002 in Japan und Korea. Schiffer