Ultra-Szene in Deutschland (Teilstudie I im Rahmen des Gesamtprojekts "Wandlungen des Zuschauerverhaltens im Profifußball - Notwendigkeiten, Möglichkeiten und Grenzen gesellschaftlicher Reaktionen")

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Bibliographische Detailangaben
Leiter des Projekts:Pilz, Gunter A. (Universität Hannover / Institut für Sportwissenschaft, Tel.: 0511 762-3195, pilz at erz.uni-hannover.de)
Mitarbeiter:Wölki, Franciska
Forschungseinrichtung:Universität Hannover / Institut für Sportwissenschaft
Finanzierung:Bundesinstitut für Sportwissenschaft (Aktenzeichen: 080901/04-05)
Format: Projekt (SPOFOR)
Sprache:Deutsch
Projektlaufzeit:02/2004 - 05/2005
Schlagworte:
Fan
Erfassungsnummer:PR020050300070
Quelle:Projektmeldung

Zusammenfassung

Angesichts der Fußballweltmeisterschaft 2006 in Deutschland und der ungebremsten Popularität der Ultra-Bewegung (auf dem gesamten europäischen Kontinent) wie auch der wenig auf ihre spezifischen Verhaltensweisen abgestimmten Umgangsweisen von Polizei, Ordnungskräften, Verbands-/Vereinsvertretern, der Medien, von Jugend- und Sozialarbeit u.a., sollen mit der Teilstudie „Ultraszene in Deutschland“ die Wurzeln, ihr Selbstverständnis, Codes und Selbstlegitimationen für Handlungs- und Verhaltensweisen der Ultras erfasst werden, um daraus aktionsorientierte Konzepte für die Arbeit mit dieser modernen (informellen) Zuschauergruppe zu entwickeln. Untersucht werden in Deutschland zunächst in bundesweiter Perspektive die Fan- und Ultra-Szenen der relevanten Ligen (i.S. eines deskriptiven Overviews), ehe dann in einem zweiten Untersuchungsabschnitt mithilfe qualitativer Methoden einzelne Gruppen gesondert untersucht werden sollen. Nach dem ersten Untersuchungsteil sollen erste Hypothesen erstellt werden, die die weiteren Forschungen fokussiv leiten und bei der Herausbildung entscheidender Fragestellungen handlungsleitend sein sollen. Mit Hilfe von Experten sollen bei der Untersuchung u.a. folgende Fragen geklärt werden:
Wie sieht die Fußballfanbewegung in Deutschland aktuell aus? Was ist passiert? Welche Veränderungen haben sich im Zuschauerverhalten junger Menschen vollzogen? Welche Position übernehmen die Extrem-Supporter? Wer sind sie, und was wollen sie? Und welche Rolle spielt dabei die Veränderungen der Gesellschaft? Haben die „Kreativen“ die „Schläger“ im Stadion vertrieben, oder treten die Ultras nur direkt in die erlebnisorientierten Fußspuren der Hooligans? Sind sie gewaltbereit oder rassistisch? Was bewirken die erhöhten Repressalien im Hinblick auf die Weltmeisterschaft 2006 in Deutschland? Könnte die dadurch erweckte Unzufriedenheit der Fans in erhöhtes Aggressionspotenzial münden, und so zu vergleichbaren Ausschreitungen wie die Straßenschlachten in Lens während der WM 1998 in Frankreich führen?

(Zwischen)Ergebnisse

Nach unserem jetzigen Erkenntnisstand lässt sich sagen, dass die Ultraszene eine sehr junge und heterogene Bewegung ist, in der es vereinzelt sowohl rechts- und linksorientierte als auch Fußball zentrierte und gewaltbereite Fans gibt. Einen bundesweiten Nenner für diese Jugendkultur zu finden ist schwierig - außer dass alle Ultra-Gruppen in erster Linie ihren Verein, ihre Mannschaft bestmöglich während eines Spiels unterstützen wollen. Dabei soll am liebsten die gesamte Kurve einbezogen werden - ein Ziel, das auch das zentrale Problem der Szene darstellt.: Die Ultras haben die Vorstellung möglichst viele mit ihren stimmungsmachenden Aktionen zu vereinen, so dass sie sich auch nicht gegen Hooligans oder Rechte in ihrem Umfeld wehren. Das heißt, dass sich in der Szene bzw. in den Ultrafankurven im Stadion vom Schläger bis zum Kind fast alles tummelt. Der Wunsch der Ultras, die Fankurve zumindest durch kollektiven „Support“ zu vereinen und den Druck der Zeit im Hinblick auf die WM 2006 als Gruppe zu überstehen, ist zurzeit bei fast allen noch größer als der Drang, sich von bestimmten, auffälligen Personen zu distanzieren. Außerdem akzeptieren nicht alle Fans im Stadion die verschiedenen Ultra-Supportaktionen in ihren Kurven. Einige Zuschauer fühlen sich von der permanenten Fahnenschwenkerei oder den hoch gehaltenen Doppelhaltern in ihrer Sicht behindert, andere wollen selbst ihre Fangesänge singen und sich von den Ultras nicht bevormunden lassen. Viele Ultras kritisieren deshalb die eher passiv zuschauenden Fans, empfinden sich als etwas Besseres, kreativer, aktiver und wirken auf Außenstehende z.T. arrogant und elitär. Mögliche Auseinandersetzungen zwischen „Normal“-Fans und Ultras können die Folge sein. Gemeinsam bei fast allen Ultraszenen ist auch ihr Desinteresse an Spielen der Nationalmannschaft. Da Ultras eng mit ihrem Verein, ihrer Stadt verwurzelt sind, treten sie bei Länderspielen auch nicht als gesamte Gruppe auf. Wenn sie sich Spiele der Nationalmannschaft anschauen, dann vereinzelt und eher aus Fußballinteresse denn aus Leidenschaft. Ansonsten gibt es große Unterschiede innerhalb der Ultraszene, wie z.B. bei dem Gruppenaufbau, der Struktur, aber auch bei ihren Einstellungen gegenüber Politik oder Ansichten gegenüber Gewalt. Streben die einen zurzeit eine möglichst große Anzahl von Mitgliedern an, um ihrer Meinung nach die effektivste „Support-Arbeit“ leisten zu können - nach dem Prinzip: Klasse durch Masse, suchen die anderen bewusst nur nach aktiven Mitgliedern und reduzieren ihre Gruppenanzahl - nach dem Prinzip: Klasse statt Masse. Auch im Hinblick auf Themen wie Gewalt oder Politik gehen die Meinungen einzelner Ultragruppen, teilweise sogar einzelner Mitglieder in den Gruppen, weit auseinander. Während der überwiegende Teil der Szene Gewalttaten oder Parteipolitik im Stadion kategorisch ablehnen, bezeichnen sich andere in bestimmten Situationen durchaus als gewaltbereit. Erste Interviews in den Neuen Bundesländern haben dabei aufgezeigt, dass es bezüglich der Gewaltbereitschaft - sowie in einigen Vereinen der unteren Ligen auch bei einem offeneren Ausleben von „rechten Gesinnungen“- einen erheblichen Unterschied zwischen Ultras der Neuen und der Alten Bundesländer gibt. In den Neuen Bundesländern wirken die Ultras perspektivloser, scheinen, „eh nichts mehr zu verlieren zu haben“ - eine Erkenntnis, die angesichts der aktuellen wirtschaftlichen und arbeitsmarktpolitischen Probleme vor allem junger Menschen in den Neuen Bundesländern, der Demonstrationen gegen Hartz IV für die Zukunft nichts Gutes erwarten lässt. Doch auch in den Alten Bundesländern wächst das Aggressionspotenzial. Vor allem wenn jugendlichen Fans erst vor einem bestimmten „Stadt-Derby“, wofür sie zuvor wochenlang Doppelhalter gebastelt, große Überziehfahnen gemalt und viel Geld ausgegeben haben, beim Einlass ins Stadion erfahren, dass sie aus Sicherheitsgründen kein „Support-Material“ mit ins Stadion nehmen dürfen, ist bittere Enttäuschung und Frust vorprogrammiert – in den Neuen wie in den Alten Bundesländern. Die Ultras fühlen sich nicht ernst genommen, empfinden sich als störend und eingeengt. Sie haben Angst, fühlen sich verfolgt, kriminalisiert und im Gegensatz zum WM-Motto nicht zu „Gast bei Freunden“. Die Unzufriedenheit unter den Ultras wächst. Viele haben das Vertrauen in den Verein, den DFB, die Medien, den Ordnungsdienst und die Polizei verloren, fühlen sich völlig missverstanden und glauben, dass allein das Faktum, dass sie Mitglied bei den Ultras sind, Außenstehenden als Information reiche, sie als Gewalttäter zu stigmatisieren. Die Tatsache, dass Einsatzkräfte der Polizei vermehrt von frechem Ton und provokanten Verhaltensweisen der Ultras berichten, ist auch Ausdruck des angespannten Verhältnisses von Polizei und Ultras. Die Polizei ist für viele Ultras ein Feindbild, Einsatzkräfte wirken auf sie häufig wie ein rotes Tuch – eine Situation, mit der auch die Ordnungsmacht nur schwer umgehen kann. Die Selbsteinschätzung der Ultras und die Wahrnehmung der Szene durch die Polizei gehen nicht miteinander konform. Gerade die Bereitschaftspolizei kann die Ultramitglieder, die sich optisch den Hooligans annähern und mit ihrem einheitlichen Gruppen-Auftreten provokant und aggressiv gegenüber „Feinden“ wie gegnerische Fans vorgehen, nur sehr schwer einschätzen. Es fällt auf, dass die Polizei die Ultras bei Auswärtsspielen viel kritischer beobachtet und schneller eingreift als bei Heimspielen. Werden die „Extrem-Supporter“ als Auswärtsfans häufig schon bei dem Besteigen der Gästefanblockzäune in Gewahrsam genommen und mit Stadionverboten bedroht, wird dieses Verhalten bei Heimspielen von der Polizei als jugendkultureller Ausdruck von Freude oder Verärgerung der Ultras verstanden und bleibt meist unbestraft. Für die Ultras ist dies nur schwer nachvollziehbar: Das eine Mal werden sie ihrer Meinung nach grundlos für ihr Verhalten bestraft, das andere Mal bleibt das gleiche Verhalten völlig sanktionslos. Die Ultras fühlen sich falsch verstanden und willkürlich behandelt. Ähnlich empfinden sie auch bei ihrem zurzeit größten und am meist diskutierten Problem - dem Stadionverbot. Während der DFB in den Stadionverboten eine präventive Maßnahme zur Abwehr künftiger Gefahren beim Fußball sieht, sehen die Ultras darin nur die Gefahr willkürlich aus ihrer Gemeinschaft, ihrem Lebensmittelpunkt entfernt und an den Rand ihrer Szene gedrängt zu werden. Außerdem glauben die Ultras, dass die Handhabung der Stadionverbote im Vorfeld der Weltmeisterschaft immer stärker ausgeweitet wird und in Fällen, die früher keine Verbote nach sich zogen, heute 3-jährige Stadionverbote ausgesprochen werden, damit die vermeintlichen Problemfans frühzeitig aus dem Fußballumfeld entfernt werden, um mehr Platz für „V.I.P.-Fans“ zu schaffen.