Hürden und Stolpersteine in spitzensportlichen Laufbahnen

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Bibliographische Detailangaben
Leiter des Projekts:Seiler, Roland (Schweiz / Bundesamt für Sport)
Forschungseinrichtung:Schweiz / Bundesamt für Sport
Format: Projekt (SPOFOR)
Sprache:Deutsch
Projektlaufzeit:04/2000 - 04/2001
Schlagworte:
Erfassungsnummer:PR020030200064
Quelle:ARAMIS - CH - Forschungsinformationssystem

Zusammenfassung

In einem Vorläuferprojekt mit dem Titel "Psychosoziale Aspekte erfolgreicher sportlicher
Laufbahnen" mit der ETH Zürich wurde in einer Vollerhebung unter den deutschsprachigen
KOS-Ausweisträgerinnen und -trägern unter anderem nach Dimensionen gefragt, die aus
der Sicht der Befragten der sportlichen Laufbahn hinderlich sind. Zwischenergebnisse, die
sich speziell auf die wahrgenommenen Barrieren und ihre Behinderungspotenz bezogen,
wurden anlässlich der Trainer- Herbsttagung des SOV am 11.11.1999 in einer Gesamtschau vorgestellt. Die Ergebnisse lösten ein enormes Echo unter den anwesenden Trainern und
Leistungssportverantwortlichen aus, und die Forderung nach detaillierteren,
sportartspezifischen Auswertungen wurde erhoben. Im bisherigen, Ende 1999
ausgelaufenen Vertrag war eine sportartspezifische Auswertung nicht vorgesehen.
Darin ebenfalls nicht vorgesehen war, die ins Deutsche übertragene Athletic Identity
Measurement Scale (AIMS; Brewer, van Raalte & Linder, 1993) anhand der vorliegenden
Daten zu überprüfen. Abklärungen zur Einsetzbarkeit dieses Messinstruments sind deshalb
wichtig, weil die Struktur der Identität als Prädiktor von gesundheitsgefährdendem
Verhalten (z.B. Übertraining, Dopingmissbrauch) oder Schwierigkeiten im Umgang mit
Zäsuren in der Laufbahn (etwa bei Sportverletzungen) gilt. Bislang liegt aber kein
entsprechendes deutschsprachiges Forschungsinstrument vor.

Im Einzelnen ist ein Katalog von Auswertungsschritten auszuarbeiten, die auf der Ebene
einzelner Verbände oder, wo die Befragungszahlen aus Gründen des Datenschutzes oder
aus statistischen Gründen zu gering sind, allenfalls auf der Ebene sinnvoll aggregierter
Verbände, möglich sind. Die Auswertungen umfassen ausführliche Interpretationen der
Ergebnisse, die den Verbänden zur Verfügung gestellt werden. Die Umsetzung der
gewonnen Erkenntnisse bleibt jedoch in der Verantwortung der einzelnen Verbände.
Die Aufgabenstellung aus diesem Projekt besteht in der Erstellung möglicher
Auswertungsprodukte, der Erarbeitung der erforderlichen Auswertungsroutinen, sowie der
fachlichen Betreuung der auswertenden Personen.
Ferner soll die Athletic Identity Measurement Scale (AIMS; Brewer, van Raalte & Linder,
1993) auf ihre testpsychologische Qualität hin überprüft werden. Hierzu gilt es vor allem,
die Dimensionalität des Instruments und die kriteriumsbezogene Validität zu klären.

(Zwischen)Ergebnisse

Es liegen kaum systematische Erkenntnisse vor über Schweizer Leistungssportlerinnen und Leistungssportler, die trotz grossem persönlichem Einsatz und der Förderung durch die jeweiligen Verbände den Sprung an die Leistungsspitze nicht schaffen oder die leistungssportliche Laufbahn beenden, ohne ihr Potenzial ausgeschöpft zu haben. Dies war der Ausgangspunkt der vorliegenden empirischen Studie: Es sollten psychosoziale Faktoren eruiert werden, die für die Entwicklung der leistungssportlichen Lauf bahn in der Schweiz bedeutsam sind. Konkret wurde die Frage angegangen, in welchen personalen und situationalen Faktoren Hochleistungssportler Behinderungen für ihre sportliche Entwicklung sehen. Besondere Aufmerksamkeit sollte zudem der Frage zukommen, inwiefern eine ausschliessliche Fokussierung der Athleten auf sportliche Inhalte und Ziele der sportlichen Laufbahn dienlich ist. Das Interesse an dieser Frage gründet darauf, dass es hierzu gegensätzliche Thesen gibt. Die eine These, die als Unidimensionalitätsthese bezeichnet werden kann, besagt, dass sportlicher Erfolg an die Bereitschaft der Athleten geknüpft ist, ihr Leben voll und ganz auf den Sport auszurichten. Die Gegenthese (Mehrdimensionalitätsthese) meint, dass darunter das Vorwärtskommen im Sport wie auch das psychische Wohlbefinden leiden kann, vor allem in Umbruchphasen während einer sportlichen Laufbahn. Zur Klärung dieser Fragen wurde mit der Unterstützung des Schweizerischen Olympischen Verbands (SOV) unter den deutschsprachigen Inhabern eines SOV-Ausweises im August/September 1999 eine schriftliche Fragebogenuntersuchung (Vollerhebung) durchgeführt. Was die erhobenen Variablen anbelangt, sind die potenziellen Hürden und Stolpersteine auf der sportlichen Laufbahn mit 60 Items erfasst worden. Wie stark Athleten ihr Leben auf den Sport ausrichten, wurde einerseits in Bezug auf ihre Identität untersucht und andererseits in Bezug den Aufwand, den sie für aussersportliche Tätigkeiten treiben. Zur Erfassung der Identität wurde die Athletic Identity Measurement Scale (AIMS) (Brewer et al., 1993) eingesetzt; das aussersportliche Engagement wurde mit sechs Items operationalisiert. Zusätzlich wurde der zeitliche Aufwand für das Training erfasst. Der Erfolg im Sport und der sportlichen Laufbahn schliesslich wurde auf vier verschiedenen Wegen erschlossen, nämlich via Zufriedenheit mit dem Leben im Sport, Urteile über den Erfolg in der bisherigen Sportlaufbahn, einen sozialen Vergleich mit der internationalen Konkurrenz und das Abschneiden an grossen internationalen Sportwettkämpfen. Die Rücklaufquote betrug 67% (N=631). Wie Vergleiche mit den 939 angeschriebenen Sportlern zeigen, ist die Stichprobe hinsichtlich Alter und Sportarten repräsentativ für alle SOV-Athleten. Die befragten Sportler (Frauenanteil: 32%) rekrutieren sich aus über 80 Sportarten, sind im Mittel 26 Jahre alt und seit 9 Jahren wettkampfmässig im Leistungssport engagiert. 25% der Stichprobe belegten an Europameisterschaften, Weltmeisterschaften oder Olympischen Spielen (inklusive Paralympics) Medaillenränge, gut 20% erreicht dies an EM oder WM bei der Jugend oder bei den Junioren. Entsprechend der zweiteiligen Fragestellung sind die Auswertungen auf zwei verschiedenen Gleisen geführt worden. Die Hürden und Stolpersteinen auf der sportlichen Laufbahn liegen zunächst in den Rahmenbedingungen des sportlichen Tuns (aus der Perspektive der Athleten): mangelnde Unterstützung von Seiten der Verbände und Vereine, ungenügende Regeneration, Beeinträchtigungen der physischen Gesundheit, ungünstige Trainingsbedingungen (in Verein, Verband wie auch im Militär- oder Zivildienst) sowie unzureichende Sachkompetenz der T rainer. Erschwerend erweist sich eine weitere Rahmenbedingung, wenngleich sie keinen unmittelbaren Leistungsbezug hat: dass viele Sportler mehr oder minder freiwillig einer Erwerbstätigkeit nachgehen oder in der schulisch-beruflichen Ausbildung stecken. Daneben gibt es noch Probleme, bei denen die zwischen-)menschliche oder psychische Komponente im Vordergrund stehen: Defizite im "mentalen" Bereich auf Seiten der Athleten, ein schlechtes soziales Klima im Trainingsalltag und Unzulänglichkeiten im Führungsstil des Trainers. Zu dieser Gruppe psychosozialer Probleme lassen sich auch mangelnde psychologische Fertigkeiten der Trainer rechnen. Die Frage, ob ein Zusammenhang zwischen dem Erfolg im Sport und dem Ausmass der Fokussierung auf den Sport besteht, ist weniger klar zu beantworten. Die Athleten selbst glauben mehrheitlich, dass der Sport unter der Belastung von Schule und Beruf leidet. Nimmt man aber nicht die Ansichten der Athleten zum Kriterium, sondern "harte" Fakten, fällt die Antwort anders aus: Im Grossen und Ganzen scheint eine Konzentration auf den Sport auf der Ebene der Aktivität keine Erfolgsvoraussetzung zu sein - ein breites Aktivitätsspektrum allerdings auch nicht, sieht man einmal davon ab, dass in einem Fall ein positiver Zusammenhang mit einem Erfolgsmass gefunden worden ist. Und was die Konzentration auf der Ebene der Identität angeht, so schadet eine breit abgestützte Identität dem Erfolg im Sport nicht - aber sie nützt im Allgemeinen auch nicht. Die Befunde dieser Studie sprechen insgesamt eher gegen die Unidimensionalitätsthese, nicht aber gegen die Mehrdimensionalitätsthese: Sie zu stützen oder zu verwerfen würde voraussetzen, dass beispielsweise der Effekt einer strukturell vielfältigen Identität in Abhängigkeit vom Auftauchen schwierigen Laufbahnphasen untersucht wird.