Akzeleration und Retardation bei SchülerInnen : Konsequenzen für den Sportunterricht

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Bibliographische Detailangaben
Autor:Greier, Klaus
Erschienen in:Bewegungserziehung
Veröffentlicht:64 (2010), 2, 16-20, Lit.
Format: Literatur (SPOLIT)
Publikationstyp: Zeitschriftenartikel
Medienart: Gedruckte Ressource
Sprache:Deutsch
ISSN:1726-4375
Schlagworte:
Online Zugang:
Erfassungsnummer:PU201011008802
Quelle:BISp

Abstract

Aufgrund veränderter Umwelt- und Lebensbedingungen kann man in den letzten Jahrzehnten eine Beschleunigung im Wachstum bei Kindern und Jugendlichen erkennen, wobei dieses Phänomen als Akzeleration (vom lateinischen accelerare beschleunigen) bezeichnet wird und erstmals vom deutschen Schularzt E. Koch in den 1930er Jahren beschrieben wurde. Betrifft die Wachstums- und Reifungsbeschleunigung die Gesamtheit der Bevölkerung spricht man von säkulärer Akzeleration. Im Gegensatz dazu bezeichnet man die beschleunigt verlaufende Entwicklung einzelner Jugendlicher im Verhältnis zur Entwicklungsnorm ihrer Altersgruppe als individuelle Akzeleration. Ein bestimmter Entwicklungsstand kann also von einem Kind bzw. Jugendlichen zeitlich früher (individuelle Akzeleration), von einem anderen hingegen später (individuelle Entwicklungsverzögerung bzw. Retardation) erreicht werden. Dies spielt vor allem für den Schul- und Vereinssport eine bedeutende Rolle, da dadurch die sportliche Leistungsfähigkeit beeinflusst werden kann. Das Phänomen der Akzeleration kann man unter dem Aspekt der morphologischen, funktionellen und psychischen Reifung betrachten. Die morphologische Akzeleration betrifft die Zunahme der Körpergröße, die funktionelle beinhaltet die körperliche Reifung, und die psychische Akzeleration bezieht sich auf geistige Reifungsprozesse. Im allgemeinen Schulbereich lässt sich innerhalb eines Jahrganges eine hohe Streubreite von biologisch jüngsten zu biologisch ältesten Schülern und Schülerinnen feststellen. Bei „normal entwickelten“ Schülern und Schülerinnen stimmen kalendarisches und biologisches Alter überein. Extremvarianten der Streuung in Bezug auf Größe und Gewicht findet man vor allem bei „selektierten“ leistungstrainierten Schulkindern. Bei den Akzelerierten liegen aufgrund ihrer größeren Körperlänge und ihrer größeren Körpermasse vor allem in den konditionellen Bereichen (Kraft, Schnelligkeit, Ausdauer) meist eine erhöhte Leistungsfähigkeit und Belastbarkeit vor. Herzvolumen und maximale Sauerstoffaufnahme (als Bruttokriterium der Ausdauerleistungsfähigkeit) weisen bei Akzelerierten signifikant bessere Werte auf. Dies sollten Sportlehrer/innen und Trainer/innen bei Durchführung von Leistungserhebungen bzw. Wettkämpfen, die ja meist nach Jahrgangsstufen gestaffelt stattfinden, berücksichtigen. Dasselbe Problem tritt natürlich auch bei der Führung von „Bestenlisten“ auf. Gewinnchancen haben hier fast ausschließlich die biologischen Frühentwickler. Im Vereinssport spielen die unterschiedliche Größe und das Körpergewicht vor allem bei Sportarten wie Schwimmen, Fechten, Ringen, Boxen, Basket-, Handball und Volleyball eine nicht zu unterschätzende Rolle. Durch die größere Körperhöhe und Reichweite der Extremitäten sind akzelerierte Schüler und Schülerinnen den retardierten meist weit überlegen. Aber auch im Rahmen des Sportunterrichts wurde dieses Problem besonders bei den Ballsportarten Volley-, Basket- und Handball deutlich. Die Tatsache, dass Sportlehrer/innen es mit Schülern und Schülerinnen unterschiedlichen Reifeniveaus zu tun haben, erfordert großes pädagogisches Gespür und Können sowie fundiertes Wissen über die Entwicklungs- und Reifungsvorgänge. Nur so können bei den großen Entwicklungsunterschieden auch leistungsgerechte Anforderungen gestellt werden. Bei den Leistungserhebungen bzw. Schulwettkämpfen sollten Schüler und Schülerinnen im Wachstumsalter nicht ausschließlich nach kalendarischen, sondern auch nach biologischen Gesichtspunkten bewertet werden, denn durch die Nichtübereinstimmung dieser Parameter kann es bei der Beurteilung der psychophyschischen Leistungsfähigkeiten zu Fehleinschätzungen (Talentauswahl) und auch zu Benachteiligungen (Notengebung) kommen. Eine Leistungszuordnung nach der Größe und dem Gewicht (korreliert eng mit der Körperhöhe) – als Ausdruck des Entwicklungsalters – erscheint in vieler Hinsicht als ein sinnvolles Verfahren, um Früh- und Spätentwickler nicht zu begünstigen bzw. zu benachteiligen. Die Sportlehrer/innen haben sich aber neben dem Problem der „inhomogenen Gruppe“ (bezogen auf Körpergröße und Körpermasse) auch mit der unterschiedlichen Belastbarkeit des jugendlichen Bewegungsapparates auseinanderzusetzen. Das „Mark-Jansen-Gesetz“ besagt, dass die Empfindlichkeit des Gewebes (Binde-, Knochen-, Muskelgewebe) sich proportional zur Wachstumsgeschwindigkeit verhält. Das Kind bzw. der Jugendliche ist daher im Vergleich zum Erwachsenen durch falsch gesetzte Trainingsreize stärker gefährdet. Dies gilt ganz besonders für den puberalen Wachstumsschub (hormonelle Umbruchsituation), der mit einer besonders hohen orthopädischen Überlastungsgefahr verbunden ist. Auf Führung von Jahrgangsbestenlisten sollte im Schülerbereich durchwegs verzichtet werden. Normalentwickler oder gar Retardierte schneiden bei diesem Vergleich mit den kalendarisch gleichaltrigen Akzelerierten aufgrund ihrer ungünstigen anthropometrischen Voraussetzungen meist schlechter ab. Schiffer (unter Verwendung wörtlicher Textpassagen)