Geschichten, Rezepte, Mythen. Über das Erzählen von Sportereignissen

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Bibliographische Detailangaben
Autor:Gebauer, Gunter
Erschienen in:Der Satz "Der Ball ist rund" hat eine gewisse philosophische Tiefe. Sport, Kultur, Zivilisation
Veröffentlicht:Berlin: Transit Buchverl. (Verlag), 1983, S. 128-145, Lit.
Format: Literatur (SPOLIT)
Publikationstyp: Sammelwerksbeitrag
Medienart: Gedruckte Ressource
Sprache:Deutsch
Schlagworte:
Online Zugang:
Erfassungsnummer:PU200512003069
Quelle:BISp

Abstract

Die Ereignisse selbst sagen nichts aus; sie müssen wahrgenommen werden. Die Wahrnehmung besteht aber nicht aus reinen Aufzeichnungen oder Wiedergaben einer wahrgenommenen Wirklichkeit. Die Wirklichkeit wird vielmehr durch gesellschaftliche Faktoren beeinflusst und von Symbolprozessen überlagert. So hängt die Wahrnehmung eines in ein Fußballstadion verschlagenen Angehörigen einer fremden Kultur davon ab, mit Hilfe welcher gesellschaftlichen und symbolischen Prozesse seine Wahrnehmung ausgebildet wurde. Die Wahrnehmung der Angehörigen einer bestimmten kulturellen Gruppe im Gegensatz zu einer anderen zeichnet sich dabei durch vier Gemeinsamkeiten aus: Lexikon, Darstellungsweise, Wirkung auf den Hörer/Leser/Seher und Beziehung zu den dargestellten Ereignissen. Diese vier Elemente gehören nicht den Ereignissen selbst an, sondern sind vielmehr Eigenschaften der Geschichten und somit der sprachlichen Darstellung. Sie sind in die Sprache über den Sport eingelassen. Vor dem Hintergrund dieser Ausführungen vertritt Verf. die These, dass die Wahl der individuellen Ereignisinterpretation davon abhängt, welche Darstellungsmittel man hat. Gebrauchen zwei Personen grundsätzlich unterschiedliche sprachliche Darstellungsmittel, dann sind für sie die beschriebenen sportlichen Ereignisse verschieden. Die individuellen Darstellungen des Sportgeschehens werden durch allgemeine Geschichtenformen vorgebildet, die wiederum in einer Mythologie des Sports begründet sind. Die Geschichten des Sports formen somit ihrerseits Ausdrucksmittel für die Sport-Mythologie, oder, anders formuliert: Die Sport-Mythologie drückt sich in Geschichten aus. Die Sport-Mythologie zeichnet sich dabei durch fünf Merkmale aus: 1. Die Stabilität der mythischen Essenzen, die bis zur Unmöglichkeit ihrer Falsifizierung reicht (so ist der Ort der Olympischen Spiele ein geweihter Ort, das Radrennen Paris-Roubaix führt in die „Hölle des Nordens“). 2. Die Konstanz, mit der Vertreter bestimmter Sportarten bestimmte „Essenzen“ zugesprochen erhalten (so sind Turnerinnen „grazil“, egal wie alt sie sind und welches Trainingspensum sie in den Knochen haben). 3. Die Typisierung von Handlungen, die einfachen Schematisierungen folgt. So kennt die Berichterstattung über die Tour de France nur vier Bewegungen: Führen, Verfolgen, Ausreißen, Zusammenbrechen. Die Typisierung hat den unschätzbaren Vorteil, den Zufall aus der Sportdarstellung auszuschalten. 4. Die Begründungsleistung. Nichts ist für den Sportler unerträglicher, als seinen Sieg und die Niederlage der anderen als unbegründet anzusehen. Nirgendwo – außerhalb des Bereichs der Ökonomie – hat die protestantische auf Verdienst begründete Moral so tief Fuß gefasst wie im Leistungssport. 5. Individuen werden zu Trägern einer bestimmten „Essenz“. Dabei spielt ihre Körperlichkeit eine entscheidende Rolle. So wird der blonde deutsche Fußballer, wenn er in einer spanischen Mannschaft spielt, zum „blonden Engel“; kleine hässliche Abwehrspieler (vorzugsweise mit Zahnlücken) gehen als „Giftzwerge“ in die Sportberichterstattung ein. Geschichten sind sprachliche Formen, die den Ausdruck der Sport-Mythologie in der Alltagssprache organisieren, wobei eine gewisse Stereotypie der Darstellungsweisen konstatiert werden kann. Es scheint nur wenige Erzählformen zu geben, in die Ereignisse des Sports gegossen werden. Diese sind die „Legende“, das „Märchen“ und der „Kasus“. Die „Legende“ ist bspw. die Geschichte einer Person, in der sich Außergewöhnliches ereignet – ein Wunder (oder mehrere). Die Wunder des Sports sind die Rekorde, die noch nicht erreichten Leistungen in ihrer Einmaligkeit und Einsamkeit. Das „Märchen“ wird durch die Einstellung des Rezipienten zu einem Ausgangsgeschehen gekennzeichnet. Der Weltzustand zu Beginn des Märchens ist für den Rezipienten höchst unbefriedigend, weil er sein naives moralisches Gefühl verletzt. Es sind Dinge geschehen, die er für ungerecht hält und die eine Wiedergutmachung verlangen. Das „Märchen“ ruft wunderbare Ereignisse herbei, die die Welt verwandeln und den Benachteiligten mit Glück überhäufen. Das naive moralische Empfinden des Rezipienten findet darin seine Befriedigung. Gerade die Wahrnehmung des Sports ist stark von Moral durchdrungen. Es gibt eine ganze Rhetorik, die Siege von Repräsentanten eines Klubs oder einer Nation als gerecht darstellen und damit die Niederlagen aller anderen Teilnehmer moralisch begründen. Das durch einen Sieg geheilte Unrecht ist dabei üblicherweise ein zuvor im Sport erlittenes, wie z. B. eine frühere Niederlage. So gilt der Gewinn der Fußball-Weltmeisterschaft 1954 in Bern durch die bundesdeutsche Mannschaft als Wiedergutmachung für die Niederlage im Zweiten Weltkrieg und die Teilung Deutschlands. Für die Fans drückt ein Fußballspiel also ein moralisches Geschehen aus. „Unverdiente“ Niederlagen der eigenen Mannschaft sind in den Augen der Fans moralische Skandale, die danach rufen, dass die Welt wieder in Ordnung gebracht wird. Die dritte Erzählstruktur, den „Kasus“, d. h. die Geschichte eines Falles, trifft man vorzugsweise im Freizeitsport an. Hierbei werden zwei Normen gegeneinander abgewogen. Eine typische dementsprechende Aussage ist z. B. „Wer keine Zeit zur täglichen Gymnastik findet, ist faul und unentschlossen“. Es gibt nichts, was einer derartigen Geschichte entgeht. Der ganze Körper wird durcherzählt und an der Messlatte einer neuen sportiven Moral gemessen. Schiffer (unter Verwendung wörtlicher Textpassagen)/Inhaltsverzeichnis