Messen, Steigern, Produzieren

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Bibliographische Detailangaben
Autor:Eichberg, Henning
Erschienen in:Der Satz "Der Ball ist rund" hat eine gewisse philosophische Tiefe. Sport, Kultur, Zivilisation
Veröffentlicht:Berlin: Transit Buchverl. (Verlag), 1983, S. 37-52, Lit.
Format: Literatur (SPOLIT)
Publikationstyp: Sammelwerksbeitrag
Medienart: Gedruckte Ressource
Sprache:Deutsch
Schlagworte:
Online Zugang:
Erfassungsnummer:PU200512003066
Quelle:BISp

Abstract

Der Begriff der Leistung enthält einerseits Elemente, die man sich als gültig über historische Epochen und kulturelle Grenzen hinweg vorstellen kann: 1. sich objektivierendes, öffentliches Handeln eines Individuums (in der Körperkultur: motorische Aktivität) mit zielgerichtetem Streben nach Anpassung an eine Norm, 2. soziokulturell konditionierte Gütemaßstäbe, die den allgemeinen Nutzen einer Tätigkeit als positiv festsetzen. Andererseits enthält der Begriff der Leistung aber auch einige weitere Elemente, deren gesellschaftlich-kulturelle Universalität mit guten Gründen bestritten wird: 3. die Betonung des Wettkampfes, der (im Sport) Sieger und Besiegte oder aber Bessere und Schlechtere durch Konfrontation zur Unterscheidung bringt, 4. das Streben nach linear-skalarer Messbarkeit der Leistung und damit nach Standardisierbarkeit, Graduierbarkeit und Quantifizierbarkeit, 5. das Streben nach Steigerung der Leistung in einen offenen, unbegrenzten Horizont hinein, 6. gesamtgesellschaftliche Gütigkeit der Leistungsnormen (im Kontrast zu ständischen Differenzierungen), Streben nach Egalisierung der Chancen, aber auch Tendenz zur Verbindung von Leistung und sozialem Statuserwerb, also soziale Hierarchisierung unter Berufung auf Leistung. Wie abwegig und naiv ethnozentrisch die Annahme eines einzigen, universalen Leistungsprinzips ist, zeigt Verf. zunächst am Beispiel der körperlichen Aktivitäten dreier sehr unterschiedlicher indonesischer Gesellschaften (Bogenschießen und Kreiseln der Mentawaier, „Klettermythos“ der Niasser, Kooperations- und Relationsmuster der Minangkabau). Im Kontrast dazu zeigt sich die Gesellschaftlichkeit der Leibesübungen gerade in der sozialen Relativität ihrer Gütemaßstäbe und damit ihres Leistens. Auch die Konfiguration des europäischen modernen Leistens war nicht „schon immer da“, wie Verf. am Beispiel der frühneuzeitlichen Kraftkultur (15./16. Jhdt.) und der „Ritterlichen Exerzitien“ zeigt. Mit der Konfiguration der Exerzitien brach man, als zuerst im England des 18. Jahrhunderts sich Übungen verbreiteten, die auf die Messung und Steigerung von Leistungen nach der Uhr angelegt waren: Wettreiten, Wettlauf und Rudern. Dazu kamen Kampfarten wie das Boxen und später der Fußball. Unabhängig davon begannen auf dem Kontinent zuerst die philantropischen Pädagogen des ausgehenden 18. Jahrhunderts, Leistungen zu messen und systematisch zu steigern. Stets erhielt das Leisten dabei seine inhaltliche Füllung erst von einem Objekt her (Leisten im Sinne des Nachkommens einer vorgegebenen Verpflichtung, etwas Schuldiges zu tun oder zu erfüllen). In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts trat daneben ein anderer Leistungsbegriff, der ohne Objekt auskam. Jetzt sprach man vom Leisten eines Menschen schlechthin, bald auch von Leistung und Leistungsfähigkeit. Zur konfiguralen Bestimmung dieses neuen Begriffs gehörte die Vorstellung, Leistung zu messen und zwar im Hinblick auf Steigerung. Des Weiteren verschob sich auf dem Weg von den Exerzitien zum modernen Leisten die Aufmerksamkeit vom Prozess (bzw. von der Form) zum Ergebnis. Die Leistung erschien nun als Produkt, vergegenständlicht in c-g-s oder Punkten, als Rekord. In derselben Zeit rückte in der Gesellschaftstheorie ebenso wie in der Praxis der Industrialisierung die Produktion, das Hervorbringen von Sachen bzw. Waren in den Mittelpunkt. Insgesamt gesehen leitet die Geschichte des Leistungsprinzips über dessen Relativierung bereits hinüber zur Perspektive seines möglichen Endes bzw. seiner Transformation in ein anderes. Was entstanden ist, kann auch wieder verschwinden. So kann man seit den 60-er Jahren in Europa eine auffällige Rezeption ostasiatischer Meditationsformen feststellen. Nicht mehr Leistung, Spannung, Geschwindigkeit beschreiben die zeitliche Konfiguration dieser Körperkultur, sondern ihr Kontrast: Entspannung, Ruhe, Zeitlosigkeit. Dabei wäre die Veränderung der Leistungsmuster im Sport kein isolierter Vorgang. Sie würde Verf. zufolge auch diesmal wieder auf einen Konfigurationswandel verweisen, der die Gesamtgesellschaft grundlegend beträfe. Es wäre eine Opposition gegen das Industriesystem – nicht (primär) aus den Köpfen, sondern aus dem Körper und der Sinnlichkeit heraus. Schiffer (unter Verwendung wörtlicher Textpassagen)