Entwicklung diagnostischer Verfahren zur Raumorientierung bei schnellen Ganzkörperdrehungen

Gespeichert in:
Bibliographische Detailangaben
Leiter des Projekts:Krug, Jürgen (Universität Leipzig / Institut für Allgemeine Bewegungs- und Trainingswissenschaft, Tel.: 0341 9731-670, Krug at rz.uni-leipzig.de)
Mitarbeiter:Laßberg, Christoph von; Beykirch, Karl
Forschungseinrichtung:Universität Leipzig / Institut für Allgemeine Bewegungs- und Trainingswissenschaft
Finanzierung:Bundesinstitut für Sportwissenschaft (Aktenzeichen: 070651/04)
Format: Projekt (SPOFOR)
Sprache:Deutsch
Projektlaufzeit:01/2003 - 12/2005
Schlagworte:
Erfassungsnummer:PR020030200090
Quelle:Jahreserhebung

Zusammenfassung

Die Zielstellung des vorliegenden Projektes besteht darin, ein diagnostisches Verfahren zur Beurteilung der Raumorientierungsfähigkeit bei sportartspezifischen Ganzkörperdrehungen zu entwickeln. Dabei wird die Frage untersucht, inwieweit individuelle okulomotorische Reflexreaktionen mit sportartspezifischen Leistungsfaktoren korrelieren.
Die Untersuchungen werden an den bereits entwickelten Drehgeräten (Sattodrehgerät und Längsachsendrehgerät) sowie am Vestibularisstimulationsgerät der Universität Tübingen durchgeführt. Untersuchungsparameter sind die VOR-Präzison (Gain) bei wechselnden sinusoidalen Beschleunigungsverläufen, die per- und postrotatorische sowie optokinetische Nystagmuspräsentation (Geschwindigkeit der langsamen Phase, Reaktionsdauer). Folgende Aspekte stehen im Mittelpunkt:
(1) Vergleichende Untersuchung des okulomotorischen Reflexverhaltens bei Sportlern (D-Kader) in den Sportarten Turnen, Wasserspringen, Eiskunstlaufen und Nichtsportlem in Abhängigkeit von deren Habituationsniveau und Trainingszustand unter verschiedenen Test- und Beschleunigungsbedingungen.
(2) Vergleichende Prüfung spezifischer Teil- und komplexer Leistungsfaktoren der Raumorientierung der zu (1) identischen Kollektive und Prüfung eines Zusammenhangs der Ergebnisse mit den Daten aus Arbeitsabschnitt (1).
(3) Ableitung eines Verfahrens zur sportspezifischen Diagnostik der individuellen Raumorientierung. Im 1. Forschungsjahr steht die Bearbeitung der Untersuchungsabschnitte (1) und (2) im Mittelpunkt. Die Realisierung von Arbeitsschritt (3) soll in Abhängigkeit der Ergebnisse aus (1) und (2) im 2. Forschungsjahr erfolgen.
Die Entwicklung und Anwendung diagnostischer Verfahren zur Beurteilung der Raumorientierung bei schnellen Drehbewegungen lässt für die technisch-kompositorischen Sportarten wesentlich verbesserte Bedingungen für die Trainingsteuerung erwarten. Durch vergleichende Untersuchungen der neu entwickelten Drehgeräte mit klassischen klinischen Drehstuhlmethoden könnten neue Möglichkeiten für medizinische Eingangsuntersuchungen erschlossen werden.

(Zwischen)Ergebnisse

1. Erfassung hochspezifischer Teilleistungsqualitäten der Raumorientierung: 1. Bezüglich der Teilleistungsqualität „somatosensorische Rotationsperzeption“ konnten weder trainingsabhängige noch gruppenspezifische Unterschiede zwischen Turnern und Nichtsportlern nachgewiesen werden. 2. Bezüglich der „visuellen Blickpräzision“ wurde eine signifikante Erhöhung der Werte bei Turnern im physiologischen Grenzbereich beobachtet. Nach dreiwöchiger Trainingspause waren die Werte allerdings bereits auf das Niveau der Nichtsportler abgesunken. 3. In Bezug auf die Fähigkeit der Turner zur „visuell-somatosensorischen Dissoziation“ wurden erstaunliche Abweichungen der subjektiven Einschätzungen und der realen Körperdrehgeschwindigkeiten und -richtungen beobachtet. Die Beobachtungen legen den Schluss nahe, dass Turner zur Raumorientierung während Drehbewegungen die Integration somatosensorischer Afferenzen weitgehend unterdrücken - zugunsten einer klaren Präferenz visueller Informationen. 2. Erfassung komplexer Teilleistungsqualitäten der Raumorientierung: Die Ergebnisse der komplexen Teilleistungsqualitäten welche im Rahmen von Trainer-Rankings ermittelt wurden (Einbeinstand, Handstand mit fester Basis, Handstand an den Ringen, multiaxiale Raumorientierung im Flug, multiaxiale Raumorientierung im Stütz), korrelierten zwischen den Trainern signifikant. Zwischen den ermittelten Parametern bestanden mit einer Ausnahme ebenfalls signifikante Korrelationen. Die Ergebnisse sprechen für enge Beziehungszusammenhänge zwischen den erhobenen Teilleistungsqualitäten. 3. Erfassung vestibulookulärer Parameter bei verschiedenen Rotationsbelastungen: 1. Bei monoaxialen Beschleunigungen konnten sowohl in der Horizontalebene als auch in der Vertikalebene signifikante Korrelationen bzgl. der Gain-Ausprägungen der Probanden beider Gruppen in den verschiedenen Tests beobach-tet werden. Signifikante Unterschiede der Gain-Ausprägungen zwischen den Gruppen konnten hingegen weder in der Horizontal- noch in der Vertikalebene verifiziert werden. Die Ergebnisse sprechen für eine stabile, aber weitgehend trainingsunabhängige Determinierung des individu-ellen VOR-Niveaus. 2. Während der Simulation multiaxialer Rotationen konnte bei rotations-trainierten Sportlern wie auch bei Nichtsportlern das ausgeführte Element anhand des okulo-motorischen Datenoutputs klar rekonstruiert werden. Rein deskriptiv konnten somit keine klaren Unterschiede bzgl. des grundsätzlichen VOR-Verhaltens zwischen den Gruppen gekennzeichnet werden. Die Auswertung der exakten VOR-Präzision hingegen ergab eine signifikante Reflexsuppression der Turner-Gains im Vergleich zu den Nichtsportlern, sofern die Schraubenbewegung vorher avisiert wurde. Bei nicht angekündigten und damit nicht antizipierbaren Schraubensimulationen konnten keine Unterschiede zu den Nichtsportlern ausgemacht werden. 4. Untersuchung von Beziehungszusammenhängen zwischen den Teilstudien: 1. Es konnten signifikante lineare Beziehungszusammenhänge zwischen den vertikalen VOR-Gains und sämtlichen Teilleistungsqualitäten der Trainer-Rankings gesehen werden. Die deutlichsten Korrelationen mit den Gain-Ausprägungen zeigten sich bei den Teilleistungsqualitäten „Multiaxiale Raumorientierung im Flug“ sowie „Multiaxiale Raumorientierung im Stütz“. 2. Es konnten außerdem negative Korrelationen der Trainer-Rankings mit den ermittelten Werten bei avisierten Schraubenbewegungen (Reflex-Suppression) beobachtet werden. Die engen Korrelationen der Ranking-Inhalte untereinander unterstreichen, dass der Parameter der vertikalen Gains nicht nur mit der multiaxialen Raumorientierung im Zusammenhang stehen, sondern auch mit verschiedenen, für technisch-kompositorische Sportarten essentiellen Grundfähigkeiten (-fertigkeiten) der Orientierungsregulation wie Handstand, Einbeinstand etc. Der Parameter des horizontalen Gains während avisierter Schraubenbewegungen korrelierte hochsignifikant mit wesentlichen Teilleistungsqualitäten der Rankings. Es zeigten sich überdies signifikante Unter-schiede zur Gruppe der Nichtsportler. Weitere Untersuchungsreihen mit Trampolinspringern wurden durchgeführt - die Auswertungen hierzu sind noch nicht vollständig abgeschlossen. Es wurden weitere Untersuchungen an Kollektiven von Trampolinturnerinnen sowie an Kunsttur-nern der nationalen Spitze durchgeführt. In Ergänzung der Zwischenergebnisse aus 2003 und 2004 können folgende weitere Ergebnisse zusammengefasst werden: Abschließende Tests im Breitenachsendrehgerät des IaT Leipzig (Untersuchung retinaler Einflüsse auf die Blickstabilisierung): 1. Bei perrotatorischer Blickfixation auf den eigenen Körper fand sich die postrotatorische Nystagmusausprägung im Vergleich zu einer perrotatorisch-visuellen Verfolgung der Umgebungsstrukturen singnifikant verstärkt. 2. Rotationstrainierte Probanden zeigten unter postrotatorischer visueller Blickfixation eine signifikant erniedrigte postrotatorische Reflexausprägung im Vergleich zu nicht-rotationstrainierten Pro-banden. Entsprechende Empfehlungen zur Blickstrategie während Rotationsbelastungen zur Reduzierung des postrotatorischen Schwindels wurden für die Trainingspraxis abgeleitet. Erfassung vestibulo-okulärer Parameter bei verschiedenen Rotationsbelastungen (Hauptstudie im Vestibularisstimulationsgerät Tübingen): 1. Bei monoaxialen Beschleunigungen konnten sowohl in der Horizontalebene als auch in der Vertikalebene signifikante Korrelationen bzgl. der intraindividuellen Gain-Ausprägungen der Probanden beider Gruppen in den verschiedenen Tests untereinander beobachtet werden. Im Gruppenvergleich zeigte das Verteilungsmuster hingegen keine wesentlichen Differenzen, signifikante Unterschiede der Gain-Ausprägungen zwischen den Gruppen konnten weder in der Horizontal- noch in der Vertikalebene verifiziert werden. Die Ergebnisse sprechen für eine sehr stabile individuelle, aber weitgehend trainingsunabhängige Determinierung des VOR-Niveaus. 2. Bei multiaxialen Rotationen konnte grundsätzlich auch bei Nichtsportlern das ausgeführte Element anhand des okulomotorischen Daten-Outputs klar rekonstruiert werden. Rein deskriptiv konnten somit keine klaren Unterschiede bzgl. des grundsätzlichen VOR-Verhaltens zwischen den Gruppen gekennzeichnet werden. Auch die Auswertung der exakten VOR-Präzision ergab keine wesentlichen Gain-Unterschiede zwischen den Gruppen, mit Ausnahme einer signifikanten Reflexreduktion der Turner-Gains im Vergleich zu den Nichtsportlern, sofern die Schraubenbewegung vorher avisiert wurde. Bei nicht angekündigten und damit nicht antizipierbaren Schraubensimulationen konnten hingegen keine Unterschiede zu den Nichtsportlern ausgemacht werden. Korrelationsbeziehungen mit Trainerrankings: 1. Die Ergebnisse der fünf Teilleistungsqualitäten, welche jeweils durch die Trainer der Sportlergruppen unabhängig ermittelt wurden (Einbeinstand, Handstand mit fester Basis, Handstand an den Ringen, multiaxiale Raumorientierung im freien Flug, multiaxiale Raumorientierung im Stütz), korrelierten in allen Expertengruppen (Trampolin, D-Kader-Kunstturner und Spitzenturner) zwischen den Trainern signifikant. Zwischen den ermittelten Parametern bestanden mit einer Ausnahme ebenfalls signifikante Korrelationen. Die Ergebnisse sprechen einerseits für eine hohe Validität der angewendeten Methode als auch andererseits für enge Beziehungszusammenhänge zwischen den Teilleistungsqualitäten. 2. Bei den D-Kader-Turnern konnten signifikante lineare Beziehungszusammenhänge zwischen den vertikalen VOR-Gains und den Teilleistungsqualitäten der multiaxialen Raumorientierung im Flug als auch im Stütz gefunden werden. 3. Die untersuchten Turner der nationalen Spitze zeigten deutliche Zusammenhänge zwischen der per- und postrotatorischen Nystagmusausprägung mit den Rankings der multiaxialen Raumorientierungsfähigkeiten. Weitere Ergebnisse: 1. Bezüglich der „retinalen Blickpräzision“ (Blickfolgetests) wurde eine signifikante Erhöhung der Werte bei den Spitzenturnern gegenüber den D-Kader-Turnern, sowie bei diesen beiden Gruppen gegenüber der Kontrollgruppe beobachtet. 2. In Bezug auf die Fähigkeit der Turner zur „visuell-somatosensorischen Integration“ wurden erstaunliche Abweichungen der subjektiven Einschätzungen und der realen Körperdrehgeschwindigkeiten und -richtungen beobachtet. Die Beobachtungen legen den Schluss nahe, dass Turner zur Raumorientierung während Drehbewegungen visuelle Informationen deutlich höher gewichten als somatosensorische Afferenzen. Um die im Rahmen des Berichtes vorgestellten Ergebnisse auch im Längsschnitt beurteilen zu können, steht die vollständige Auswertung der durchgeführten Verlaufsstudien der D-Kader-Turner noch aus. Darüber hinaus wird die derzeitige Vielzahl der Einzelkorrelationen aus den verschiedenen Parametern der Trainerrankings sowie aus den okulomotorischen Parametern noch einem multiplen Regressionsverfahren zugeführt, um die Ergebnisse der Arbeit letztlich auf die formulierten Forschungshypothesen zurück führen zu können und abschließende Aussagen bzgl. der zentralen Fragestellungen des Projektes treffen zu können.