Psychologische Beratung und mentales Training in der Rehabilitation von schweren Sportverletzungen

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Bibliographische Detailangaben
Leiter des Projekts:Marcolli, Christian (Eidgenössische Technische Hochschule Zürich / Institut für Bewegungs- und Sportwissenschaften, Tel.: 0041 1/632-5876, marcolli at sport.anbi.ethz.ch)
Mitarbeiter:Schilling, Guido
Forschungseinrichtung:Eidgenössische Technische Hochschule Zürich / Institut für Bewegungs- und Sportwissenschaften
Finanzierung:Drittmittel; Schweiz / Eidgenössische Sportkommission
Format: Projekt (SPOFOR)
Sprache:Deutsch
Projektlaufzeit:03/1999 - 09/2000
Schlagworte:
Erfassungsnummer:PR020000100236

Zusammenfassung

Bei der Behandlung von Sportverletzungen werden im medizinischen und physiotherapeutischen Bereich viele Massnahmen ergriffen, um die Rehabilitation zu optimieren. Segesser (1997a) definiert für eine erfolgreiche Rehabilitation von Sportverletzungen verschiedene Punkte. Dabei wird zwischen den Operationsvorgaben, den Rehabilitationszielen, den Rahmenbedingungen, dem Rehabilitationsteam und den Behandlungsmethoden unterschieden. Bei der Nennung der obigen Punkte wird ausdrücklich auf die Wichtigkeit eines bestimmten Faktors verwiesen, welcher die Rehabilitation entscheidend beeinflusst: die Motivation des Patienten. Diesem Punkt wird in den heutigen Rehabilitationsschemata sehr wenig bis keine Beachtung geschenkt (Wiese-Bjornstahl, Smith & Lamott; 1995). Obwohl man sich offensichtlich der Wichtigkeit der psychischen Verfassung bewusst ist, bleiben folgende Fragen offen: Kann die Rehabilitation von Sportverletzungen unter der gezielten Berücksichtigung von psychologischen Aspekten optimiert werden? Welche Auswirkungen hat eine systematische psychologische Betreuung auf den Rehabilitationsverlauf? Welche psychologischen Fähigkeiten und Fertigkeiten ("mental skills") erachten die Athleten als rehabilitationsfördernd?
Ziel dieser Längsschnittuntersuchung war es, wissenschaftlich nachzuweisen, ob und inwiefern psychologische Betreuung und Mentales Training in der Rehabilitation von schweren Sportver-letzungen rehabilitationsfördernde Auswirkungen haben. Es wurde davon ausgegangen, dass es sich bei schweren Verletzungen (wie beispielsweise die Ruptur des Vorderen Kreuzbandes), die einen operativen Eingriff nach sich ziehen, um ein Stressereignis für einen Athleten handelt (vgl. Heil, 1993). Mit Hilfe des eigens für solche rehabilitierenden Athleten entwickelten mentalen Trainingsprogrammes mit dem Namen COMEBACK (Marcolli, 1997) sollten mentale Fertigkeiten vermittelt werden, die ein erfolgreiches psychisches Bewältigen der Verletzung zur Folge haben. In Anlehnung auf die Stresstheorie von Lazarus und Folkman (1984) und deren Weiterentwicklung von Folkman, Chesney, McKusick, Ironson, Johnson, und Coates (1991) wurde angenommen, dass sich diese erfolgreiche Bewältigung bei den Athleten mit COMEBACK im Vergleich mit einer Kontrollgruppe, die nicht an der Intervention teilnahmen, auf verschiedenen Ebenen positiv auswirken wird.
Es wurde erwartet, dass die Athleten der Interventionsgruppe weniger Komplikationen in ihren Rehabilitationsverläufen erleiden als diejenigen der Kontrollgruppe, und dass die Dauer der Rehabilitation in der Interventionsgruppe kürzer sein wird. Weiter wurde erwartet, dass gewisse Stressstrategien der Athleten der Interventionsgruppe im Verlauf der Rehabilitation eine positive Entwicklung erfahren, während sie in der Kontrollgruppe gleich ausgeprägt bleiben. Dadurch wurde erwartet, dass die psychische Befindlichkeit während des Rehabilitationsverlaufs bei der Interventionsgruppe positiver ist als diejenige in der Kontrollgruppe. Damit wäre gemäss den theoretischen Grundlagen für die Athleten der Interventionsgruppe die psychische Voraussetzung geschaffen, um so intensiv wie möglich am Rehabilitationsprogramm teilzunehmen. Diese aktive Teilnahme sollte sich deshalb signifikant positiv von derjenigen der Kontrollgruppe unterscheiden. Schliesslich wurde erwartet, dass die psychologische Betreuung eine kritischere Selbsteinschätzung bezüglich der eigenen Teilnahme am Rehabilitationsprogramm zur Folge hat als in der Kontrollgruppe. Aus den erfolgten Rückmeldungen zur psychologischen Betreuung wurden konkrete Hinweise zu den rehabilitationsfördernden "mental skills", dem Setting einer solchen Intervention, zu den Anforderungen an den durchführenden Sportpsychologen und schliesslich zu den Auswirkungen aus subjektiver Sicht erwartet.

(Zwischen)Ergebnisse

Physiologische Aspekte: Die Rehabilitationsverläufe der Interventionsgruppe unterschieden sich nicht signifikant von denjenigen der Kontrollgruppe. Beide Gruppen verzeichneten ähnlich viele und vergleichbar schwere Komplikationen in den verschiedenen Phasen ihrer Rehabilitationsverläufe. Allerdings unterschied sich die Dauer der Rehabilitation nach der Ruptur des vorderen Kreuzbandes in der Interventionsgruppe signifikant von derjenigen in der Kontrollgruppe: die COMEBACK-Athleten benötigten von der Operation bis zum Wiedereinstieg in den Wettkampfalltag im Durchschnitt knapp sechs Wochen weniger (Interventionsgruppe: 27,61 Wochen, Kontrollgruppe: 33,53 Wochen). Bei den anderen Verletzungen zeigten sich keine signifikanten Unterschiede bezüglich der Rehabilitationsdauer. Psychologische Aspekte: Die Trendanalyse ergab bei den Stressverarbeitungsstrategien, dass sich das soziale Unterstützungsbedürfnis und das Fluchtverhalten über die Behandlungszeit im erwarteten Sinn bei den beiden Gruppen unterschiedlich entwickelte. Zudem unterschieden sich die beiden Gruppen während des Rehabilitationsverlaufs in der Reaktionskontrolle (Erhebungszeitpunkte 2-4), sowie in der positiven Selbstinstruktion (Erhebungszeitpunkte 3 und 4) und dem Vermeidungsverhalten (Erhebungszeitpunkt 2). Bei der Befindlichkeit wurden die unterschiedlichen Entwicklungen bei den beiden Gruppen über die Behandlungszeit bei der sozialen Entspannung und der persönlichen Verwirklichung im erwarteten Sinn deutlich. Tendenzielle Unterschiede zeigten sich bei der emotionalen Beanspruchung, und den sozialen Belastungen. Weiter unterschieden sich die beiden Gruppen während des Rehabilitationsverlaufs zu den verschiedenen Erhebungszeitpunkten in mehreren Bereichen im erwarteten Sinn, so beispielsweise bei der Selbstregulation (Erhebungszeitpunkte 2-4) oder der Selbstwirksamkeitsüberzeugung (Erhebungszeitpunkte 2 und 3). Verhaltensbezogene Aspekte: Gemäss der Einschätzung der zuständigen Physiotherapeuten nahmen die Athleten der Interventionsgruppe signifikant stärker am Rehabilitationsprogramm teil (Gesamteindruck, zu allen Erhebungszeitpunkten). Besonders zwischen den Erhebungszeitpunkten 3 und 4 zeigten die Athleten der Interventionsgruppe im Vergleich mit der Kontrollgruppe eine bedeutend grössere Teilnahme am Rehabilitationsprogramm. Konkret zeigte sich dies in den Bereichen Wissen über den Sinn der Übungen, Eigenverantwortung, Heimprogramm sowie dem Befolgen eines aggressiven Therapieplans, ohne dabei Risiken einzugehen. Auffällig war zudem, dass die Einschätzung der Physiotherapeuten bezüglich dem Befolgen des Heimprogramms der Athleten der Interventionsgruppe zu allen Erhebungszeitpunkten signifikant besser war als diejenige der Athleten der Kontrollgruppe. Schliesslich zeigten die Vergleiche zwischen den Selbsteinschätzungen und den Fremdeinschätzungen über die Teilnahme am Rehabilitationsprogramm, dass sich die Athleten der Interventionsgruppe in mehreren Bereichen zu den verschiedenen Erhebungszeitpunkten statistisch bedeutend schlechter einschätzten als ihre Physiotherapeuten, während das beim Vergleich der Selbst- und Fremdeinschätzungen in der Kontrollgruppe das Gegenteil der Fall war. In mehreren Bereichen schätzten die Athleten der Kontrollgruppe ihre Teilnahme am Rehabilitationsprogramm besser ein als die zuständigen Physiotherapeuten. Rückmeldungen zu COMEBACK (Mehrfachnennungen möglich): 45% der Athleten gab die Befähigung zur selbständigen Anwendung von Entspannungsübungen als hilfreichster Aspekte der Intervention an. Weiter wurden das persönliche Gespräch (35%), die Zieldefinition und -kontrolle, die Rehabilitations- und Trainingsplanung sowie die Befähigung zur selbständigen Anwendung des Visualisierens (je 25%) genannt. Aus den Rückmeldungen zum Setting der Intervention wurde deutlich, dass es hilfreich war, dass der durchführende Sportpsychologe zum Behandlungsteam gehörte, und die Kombination der Termine mit denjenigen der Physiotherapie innerhalb der Praxisklinik Rennbahn eine gute Lösung darstellte. 70% der Athleten gaben die positive und aufmunternde Art des Sportpsychologen als dessen Stärke an. Jeder zweite Athlet nannte zudem das Eingehen des Sportpsychologen auf die ganze Person und Situation (nicht nur auf die Verletzung). Als weitere Stärken wurden die Fähigkeit, Zuhören zu können (35%), die Erreichbarkeit als Ansprechperson (30%) sowie die persönliche Erfahrung des Sportpsychologen mit dem Spitzensport und Verletzungen (25%) genannt. Je 35% der Athleten gab an, dass die Intervention COMEBACK ein zusätzlicher positiver Input war, einen Sinn in der Verletzung zu sehen, und um die Rehabilitation bewusster wahrzunehmen und auszuführen, sowie ein Ziel vor Augen zu haben. Weitere 15% gaben an, dass sie glaubten, dank COMEBACK nie in ein "Motivationsloch" gefallen zu sein, und 10% nannten die psychische Ausgeglichenheit als Auswirkung der Intervention.