Jenseits des Wahrnehmbaren

Gespeichert in:
Bibliographische Detailangaben
Autor:Hüttermann, Stefanie; Noël, Benjamin; Memmert, Daniel
Erschienen in:Impulse
Veröffentlicht:22 (2017), 1, S. 46-47
Format: Literatur (SPOLIT)
Publikationstyp: Zeitschriftenartikel
Medienart: Gedruckte Ressource Elektronische Ressource (online)
Sprache:Deutsch
ISSN:2192-3531
Schlagworte:
Online Zugang:
Erfassungsnummer:PU201708006264
Quelle:BISp

Abstract des BISp

Ab der Fußball-Bundesligasaison 2017/2018 wird ein die Schiedsricher unterstützendes Videotechniksystem einem ausgiebigen Praxistest unterzogen, bevor im Frühjahr 2018 endgültig über eine weltweite Einführung der Technik entschieden wird. Ein am Institut für Trainingswissenschaft und Sportinformatik der Deutschen Sporthochschule Köln betriebenes Projekt liefert aber schon jetzt weitere Argumente für die Notwendigkeit von technischen Schiedsrichterhilfen. Die Abseitsentscheidungen einer kompletten Bundesligasaison wurden untersucht mit dem Ergebnis, dass viele Situationen von den Schiedsrichterassistenten überhaupt nicht fundiert bewertet werden können, weil die menschlichen Wahrnehmungsfähigkeiten angesichts der enormen Anforderungen an ihre natürlichen Grenzen geraten. In vorherigen Forschungsarbeiten zeigte sich beispielsweise, dass das Risiko einer Fehlentscheidung steigt, wenn die Assistenten im entscheidenden Moment des Ballabspiels rennen müssen, um die optimale Einsicht ins Spielgeschehen zu haben. Im Zentrum der aktuellen Untersuchung stand allerdings eine andere Frage: Wie wirken sich die unterschiedlichen Blickwinkel, aus denen ein Schiedsrichter Abseitssituationen bewertet, auf die Korrektheit seiner Entscheidungen aus? Der Befund lautet: Die Fähigkeit, regelkonforme Urteile zu fällen, verringert sich, je größer der Winkel zwischen den beiden Objekten aus der Perspektive des Assistenten ist. Das heißt, die Entscheidungen werden nicht nur dadurch beeinflusst, wie weit der abspielende Fußballer vom Passempfänger entfernt steht, sondern auch davon, wie tief die beiden Spieler aus Sicht des Assistenten im Feld stehen. Damit lässt sich erklären, warum Zuschauer auf einem günstig liegenden Tribünenplatz Abseitsstellungen mitunter besser erkennen als der Schiedsrichterassistent. Durch die größere Entfernung ist ihr Sichtwinkel günstiger, wie sich in der Analyse zeigt. In den insgesamt kodierten 355 Abseitsentscheidungen waren 49 Fehler enthalten, das entspricht einer Quote von 14 Prozent. Diese angesichts von 306 untersuchten Spielen klein erscheinende Anzahl von untersuchten Abseitsstellungen beruht auf dem Vorsatz, nur solche Situationen zu untersuchen, die als Abseits sanktioniert wurden. Unberücksichtigt blieben Situationen, in denen der Schiedsrichter seine Fahne unten ließ, da hier nicht klar war, ob er tatsächlich erkannt hatte, dass keine Abseitsstellung vorlag, oder ob er unsicher war und gemäß dem Vorsatz „Im Zweifel für den Stürmer“ gehandelt hat. Außerdem konnten nur solche Szenen kodiert werden, in denen das TV-Bild den Passgeber, den Passempfänger und zugleich den Assistenten zeigte, um die notwendigen Distanzen ermitteln und den Sehwinkel des Schiedsrichters auf die Spielszene ermitteln zu können. Der Hauptbefund ist demnach klar: Betrug der Winkel zwischen den Sichtlinien des Assistenten zu den beiden für die Abseitsstellung relevanten Spieler weniger als 40 Grad, lag die Fehlerquote bei elf Prozent. War der Winkel größer als 40 Grad, waren 30 Prozent der Entscheidungen inkorrekt. Das gleichzeitige Erfassen von mehreren im Sichtfeld weit auseinander liegenden Objekten kann die menschliche Wahrnehmung überfordern. Es ist also davon auszugehen, dass die Schiedsrichterassistenten im Ligaalltag regelmäßig Entscheidungen treffen müssen, für die ihr Wahrnehmungsapparat eigentlich nicht geeignet ist. Daher sollten Möglichkeiten geschaffen werden, wie die Aufmerksamkeitsfähigkeiten entweder noch weiter trainiert oder aber durch technische Hilfe unterstützt werden könnten. (Schiffer unter Verwendung wörtlicher Textpassagen)