„Man entsage dem Betruge der misgeleiteten Vernunft (…) so wird man sehen, daß man schwimmen kann.” : Schwimmpraktiken und -debatten im 18. Jahrhundert

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Bibliographische Detailangaben
Autor:Mallinckrodt, Rebekka von
Erschienen in:WerkstattGeschichte
Veröffentlicht:2006, 44, S. 7-26, Lit.
Format: Literatur (SPOLIT)
Publikationstyp: Zeitschriftenartikel
Medienart: Gedruckte Ressource
Sprache:Deutsch
ISSN:0933-5706, 0942-704X, 2701-1992
Schlagworte:
Online Zugang:
Erfassungsnummer:PU201503002394
Quelle:BISp

Abstract

Das »aufklärerische« Schwimmen war eine Innovation, insofern Ende des 18. Jahrhunderts eine sich selbst deutende Praktik entstand, die sich vor allem durch die Selbstbeschreibung und später auch durch die Institutionalisierung der Schwimmschulen von zuvor und parallel vorhandenen Praktiken der Handwerker, Bauern, Schiffsleute und außereuropäischer Völker absetzte. Der Makel der nicht standesgemäßen Beschäftigung wurde durch eine eigene Traditionsbildung überdeckt, das Schwimmen durch seine Nützlichkeit nobilitiert und durch eine methodische Herangehensweise verwissenschaftlicht. Dass dennoch weiterhin grundsätzliche Zweifel an der Schwimmfähigkeit des Menschen formuliert wurden, ist nicht einfach der Ignoranz, Rückständigkeit und wissenschaftlichen Profilierungssucht der Autoren zuzuschreiben, sondern am ehesten der Vielzahl der Unglücksfälle. Schwimmen galt dabei nur als eine Möglichkeit, den Gefahren des Wassers zu begegnen, die mit anderen Innovationen — wie dem Scaphander — in Konkurrenz stand.
Auch die Entstehung der Pariser Schwimmschule lässt sich als Konkurrenz um wirtschaftliche Privilegien lesen. Letztlich gaben aber verkehrspolitische Erwägungen der städtischen Obrigkeit den Ausschlag für die Ablehnung aller Projekte, und erst die zeitweilige Verlagerung an einen abgelegeneren Ort und die Werbung mit einer verbesserten militärischen Ausbildung machten den Weg für die erste Schwimmschule Europas frei. Damit spielten aber »externe« Faktoren eine weitaus größere Rolle, als eine ausschließlich auf die Bewegungskultur konzentrierte Geschichte je sichtbar machen könnte. Wem das Label der Fortschrittlichkeit gebührte — Schwimmen oder Scaphandern —, war außerdem unter Zeitgenossen umstritten. Die Herauslösung und Isolierung des Schwimmens aus diesen zeitgenössischen Debatten und seine Markierung als typisch aufklärerisch (und damit der gegnerischen Position als »rückständig«) ist deshalb nicht nur einer allzu gläubigen Lektüre der aufklärerischen Schwimmtraktate, sondern zugleich einer Projektion der Verhältnisse des 19. und 2o. Jahrhunderts auf frühere Epochen geschuldet. Die Situation stellte sich aber für die Menschen des 18. Jahrhunderts durchaus ergebnisoffen dar. Erst eine breitere Kontextualisierung und eine Hintanstellung der Entwicklungsperspektive kann diese unterschiedlichen Perspektiven und damit die Vielgestaltigkeit der (Vor)moderne sichtbar machen. (Wörtliche Textpassage aus dem Schlussteil)