Regel 144.2: Sprintmechanik eines beidseitig unterschenkelamputierten Athleten

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Bibliographische Detailangaben
Autor:Potthast, Wolfgang; Brüggemann, Gert-Peter
Erschienen in:Forschung Innovation Technologie
Veröffentlicht:15 (2010), 1, 30-35
Format: Literatur (SPOLIT)
Publikationstyp: Zeitschriftenartikel
Medienart: Gedruckte Ressource
Sprache:Deutsch
ISSN:1434-7776
Schlagworte:
Online Zugang:
Erfassungsnummer:PU201010007386
Quelle:BISp

Abstract

Dem heute 24-jährigen Südafrikaner Oscar Pistorius (OP) mussten aufgrund eines Gendefekts im Alter von elf Monaten beide Füße und Teile beider Unterschenkel amputiert werden. Von da an lernte er mit Hilfe von Unterschenkelprothesen zu gehen und Sport zu treiben, in dieser Zeit im Wesentlichen Mannschaftssport. In der Rehabilitationsphase nach einer Knieverletzung begann Pistorius mit speziell angefertigten Prothesen (Blades) zu sprinten. Im selben Jahr (2004) nahm er bereits an den Paralympischen Sommerspielen teil und gewann in der Klasse T44 über 100 m Bronze sowie über 200 m Gold. In den folgenden Jahren brach er Weltrekorde in seiner Klasse über die Distanzen 100 m, 200 m und 400 m. Seine persönliche Bestzeit liegt derzeit bei 46,25 s über 400 m. Pistorius strebte an, sich bei den Olympischen Spielen 2008 Athleten mit ohne Behinderung zu messen. Das Sprinten mit Prothesen könnte jedoch der Regel 144.2 der IAAF (International Association of Athletics Federations) widersprechen, wonach kein Athlet Federn, Räder oder ein anderes Element nutzen darf, das ihm einen Vorteil gegenüber einem anderen Athleten bietet, der dieses Hilfsmittel nicht nutzt. Die IAAF beauftragte im Spätsommer 2007 das Institut für Biomechanik und Orthopädie der Deutschen Sporthochschule Köln (DSHS), die Sprintmechanik von Oscar Pistorius in der Phase der höchsten Laufgeschwindigkeit im Vergleich zu 400-m-Sprintern ohne Behinderung und ähnlichen Leistungsniveaus zu analysieren. Methode der Untersuchung und Ergebnisse werden beschrieben. Die wohl bemerkenswerteste Erkenntnis der Studie waren die großen Unterschiede der energetischen Beiträge aus Kniegelenk und Sprunggelenk zwischen dem beidseitig amputierten Sprinter OP und den Athleten ohne Behinderung der Kontrollgruppe (KG). Bei den Teilnehmern der KG waren die relativen Beiträge von Knie- und Sprunggelenk deutlich gleichmäßiger verteilt als bei OP, bei dem das Kniegelenk keinen nennenswerten energetischen Beitrag in der Phase der maximalen Geschwindigkeit leistete. Fast der gesamte Beitrag der unteren Extremität resultiert hier aus der im künstlichen Sprunggelenk verrichteten Arbeit. Hierbei ist hervorzuheben, dass die Wettkampfprothese lediglich eine Energiedissipation von etwa 5 % aufweist, d. h. etwa 95 % der in der ersten Phase gespeicherten Energie, werden zurückgegeben. Die Prothese wirkt also fast wie eine idealelastische Feder. Beim Sprunggelenk der Athleten ohne Behinderung wird dagegen fast die Hälfte (46 %) der absorbierten Energie nicht zurückgegeben. Das bedeutet, dass OP, sobald er eine gewisse Laufgeschwindigkeit und damit kinetische Energie erreicht hat, einen erheblichen Anteil seiner Energie in der ersten Hälfte der Stützphase in der Prothese in Form von Verformungsenergie speichern kann, und in der zweiten Hälfte der Stützphase fast die gesamte Energiemenge rein passiv zurückbekommt. Diese Bewegungsstrategie, die als fast idealelastisches „Abfedern“ oder „Prellen“ bezeichnet werden kann, unterscheidet sich deutlich von der Bewegungsform aller Kontrollathleten. Die Generierung von Gelenkenergie beim Athleten ohne Behinderung geschieht immer in Verbindung mit Muskelarbeit. Das wird auch anhand der deutlich höheren externen Knieextensionsmomente der KG deutlich. Diesen externen Momenten muss im Wesentlichen durch Muskelkraft entgegengewirkt werden. Offenbar erlaubt die Strategie von OP ein Sprinten mit geringerer Vertikalbewegung des Körperschwerpunkts (geringere vertikale Reaktionskraftimpulse) sowie mit reduzierten Bremsimpulsen. Es wird festgehalten, dass die Bewegungsmechanik von OP beim Sprinten in der Phase maximaler Geschwindigkeit sich grundsätzlich von der Mechanik von Kontrollsprintern ähnlicher Leistungsklasse unterscheidet. Dies betrifft sowohl auf den Körperschwerpunkt bezogene Parameter also auch die energetischen Beiträge der Gelenke der unteren Extremität. Auf Grundlage des Forschungsberichts entschied die IAAF, OP nicht für die Olympischen Spiele in Peking zuzulassen. Die Seite von OP beauftragte daraufhin eine weitere Forschungsgruppe mit der Erstellung einer Bewegungsanalyse. Inhaltlich widersprachen die Ergebnisse denen der Studie des Instituts für Biomechanik und Orthopädie nicht. Jedoch wurden einige der Ergebnisse anders interpretiert. OP entschied sich im Anschluss daran, vor dem Internationalen Sportgerichtshof (CAS) die Entscheidung der IAAF anzufechten. Das CAS sah einen Wettbewerbsvorteil anhand der Datenlage nicht eindeutig gegeben und hob die Sperre von OP auf. Er hätte demzufolge bei den Olympischen Spielen in Peking starten dürfen, qualifizierte sich jedoch sportlich nicht. Schiffer (unter Verwendung wörtlicher Textpassagen)