Fußball als Sport der neuen Mittelschichten

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Bibliographische Detailangaben
Autor:Eisenberg, Christiane
Erschienen in:100 Jahre Holstein Kiel : Kieler S.V. Holstein von 1900
Veröffentlicht:Paderborn: Sportverlag (Verlag), 2000, S. 178-193, Lit.
Format: Literatur (SPOLIT)
Publikationstyp: Sammelwerksbeitrag
Medienart: Gedruckte Ressource
Sprache:Deutsch
Schlagworte:
Online Zugang:
Erfassungsnummer:PU200512002685
Quelle:BISp

Abstract

Das Fußballspiel hatte in Deutschland weder vorindustrielle Traditionen noch wurde es in den Turnvereinen gepflegt. Als die Engländer in den 1870er/80er Jahren erstmals öffentliche „Matches“ austrugen, hatten die wenigsten Einheimischen, die sich überhaupt für das Spiel erwärmen konnten, daher keine besondere Präferenz für Rugby oder Soccer. Beide Varianten wurden nebeneinander, z. T. auch durcheinander gespielt. Als der Braunschweiger Gymnasialprofessor Konrad Koch Anfang der 1890er Jahre die Regeln der englischen Football Association ins Deutsche übersetzte und publizierte, trug er jedoch bereits der wachsenden Nachfrage nach dem unkomplizierterem und weniger verletzungsträchtigen Soccer-Fußball Rechnung. Denn unabhängig von den Initiativen der Pädagogen hatten englische Studenten und Techniker, die sich in Deutschland aufhielten, junge Leute aus ihrem deutschen Bekanntenkreis mit dem Fußballspiel vertraut gemacht. Als im Jahr 1900 der Deutsche Fußball-Bund (DFB) mehrere der im vorangegangenen Jahrzehnt entstandenen Lokal- und Regionalverbände unter seinem Dach zusammenfasste, schlief Rugby endgültig ein. Während Arbeiter selbst außerhalb des studenten- und angestelltenlastigen DFB kaum für den Fußball zu gewinnen waren, waren es insbesondere die Angestellten, die dem Fußball in Deutschland zur „Volkstümlichkeit“ verhalfen. Dies lag nicht nur daran, dass viele von ihnen von Berufs wegen über Englischkenntnisse verfügten, sondern zum einen waren die in den Gründerjahren des deutschen Fußballs rapide zunehmenden Angestellten „traditionslos“ und daher im Gegensatz zu den in der sozialdemokratischen Subkultur verankerten Arbeitern offen für Neues. Zum anderen hatten die Angestellten Ende des 19. Jahrhunderts bereits ein ausgeprägtes Freizeitbewusstsein entwickelt und waren bereit, einen vergleichsweise hohen Anteil ihres Einkommens für „Vergnügen“ und „Erholung“ aufzuwenden. Der Fußball wurde infolgedessen in Deutschland zunächst Bestandteil der Angestellten-, nicht der Arbeiterkultur. Als Gesellschaftsspiel hatte Fußball Erfolg, weil die sozialen Beziehungen, die sich in seinem Umfeld entwickelten, tatsächlich von den distanzierten, unverbindlichen Umgangsformen geprägt waren, die vielen Zeitgenossen so erstrebenswert erschienen. Der Charakter des Fußballspiels als heiteres Gesellschaftsspiel prägte die ersten 10-15 Jahre dieses Sports; mit der Gründung des DFB im Jahr 1900 trat er allmählich in den Hintergrund. Fußball wurde nun als Selbstzweck betrachtet und Spieler wie Zuschauer legten zunehmend Wert auf ein flüssiges, spannendes Spiel. Der ausgeprägte Individualismus der Fußballer, der als eine wichtige Voraussetzung für das Zustandekommen einer „Wechselwirkung“ im Rahmen der Geselligkeit erschien, wurde nun als störend empfunden, weil er die „Wechselwirkung“ auf dem Spielfeld störte. Einen nicht zu unterschätzenden Beitrag für die Herausbildung von Teamgeist und Wir-Gefühl unter den Spielern leistete u. a. die Einführung der Abseitsregel, die bereits in den DFB-Regeln von 1903 verankert wurde. Die für den deutschen Fußball wohl wichtigste – und zugleich folgenreichste – Integrationsleistung erbrachten jedoch die Konnotationen, die Spieler und Zuschauer wie selbstverständlich mit dem Spiel verbanden. Militärische Metaphern („Angriff“, „Verteidigung“, „Flügel“, „Flanken“, „Deckung“, „Fußballschlacht“, „Schlachtenbummler“) hatten im Fußball die Funktion, das Zusammenspiel zu fördern, sollten und konnten aber den einzelnen Spieler nicht zum reinen Befehlsempfänger stempeln. Das hätte auch dem Selbstbild der Angestellten unter den Spielern widersprochen, für die der „dauernde Kampf“ des Berufslebens vor allem durch ihre persönliche Initiative, ihren „Willen“ entschieden wurde. Das Persönlichkeitsbild eines idealen Fußballspielers entsprach vielmehr dem des modernen Soldaten als „denkendem, zur Selbständigkeit erzogenen Führer und selbsthandelndem Schützen“. Es überrascht daher nicht, dass Fußball in den letzten Jahren vor dem Ersten Weltkrieg zu einem Soldatenspiel avancierte. Schiffer (unter Verwendung wörtlicher Textpassagen)