Wir sind wieder wer! Fußball, nationale Identität und Entwicklung: Variationen eines Themas aus deutscher, südamerikanischer und afrikanischer Perspektive

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Bibliographische Detailangaben
Autor:Wagner, Christoph
Erschienen in:Abseits denken : Fußball in Kultur, Philosophie und Wissenschaft
Veröffentlicht:Kassel: Agon-Sportverl. (Verlag), 2004, S. 146-159, Lit.
Format: Literatur (SPOLIT)
Publikationstyp: Sammelwerksbeitrag
Medienart: Gedruckte Ressource
Sprache:Deutsch
Schlagworte:
Online Zugang:
Erfassungsnummer:PU200501000129
Quelle:BISp

Abstract

Nach fast genau einem halben Jahrhundert lebte das „Wunder von Bern“ im Herbst 2003 wieder auf, wurde visuell fassbar und emotional nachvollziehbar auch für jene, die 1954 noch nicht geboren waren. Sönke Wortmanns Film „Das Wunder von Bern“ sorgte für volle Kinokassen und bei einigen Zuschauern gar für Tränen. Bis dahin war es nicht zuletzt der leidenschaftlichen Radioreportage von Herbert Zimmermann zu verdanken, dass ein Fußballspiel in das kollektive Gedächtnis der Deutschen transportiert wurde und dort seinen festen Platz gefunden zu haben schien. Nicht zuletzt mit dem Finalerfolg des Außenseiters Deutschland wurde der Mythos von den „deutschen Tugenden“ geboren, auf die auch heute nicht nur im Kontext von Spielen der deutschen Nationalmannschaft immer wieder gerne rekurriert wird. Neben individualpsychologischen Komponenten ist es vor allem die Wirkung des WM-Sieges als Initialzündung für die Bildung eines im weitesten Sinne kollektiven, nationalen Selbstwertgefühls, was dieses Fußballspiel aus sozialwissenschaftlicher Perspektive bis zum heutigen Tag so interessant macht. Endlich hatte Deutschland etwas Positives bewegt, endlich sein Erfolgserlebnis. Als Fußballweltmeister war man nun auch international wieder wer, hatte sich im Ausland eine gewisse (Be-)Achtung erworben und konnte sich wieder als Mitglied der Volksgemeinschaft fühlen. Insofern hat 1954 für Deutschland sowohl in seiner nationalen als auch in seiner internationalen Dimension eine integrative Funktion. Das „Wunder von Bern“ erscheint als ein Paradebeispiel dafür, dass von Erfolgen bei großen Fußballereignissen durchaus eine besondere Wirkung von gesamtgesellschaftlicher Relevanz ausgehen bzw. sich im Fußball die Entwicklung einer ganzen Gesellschaft spiegeln kann. Zumindest firmierte im Gefolge der Monate und Jahre nach 1954 die gewonnene Weltmeisterschaft als Aufbruchsignal, wurde zum nationalen Symbol einer Entwicklung, die in die Zeit des Wirtschaftswunderlandes Deutschland münden sollte. Nationalstaaten sind generell auf solche „Erinnerungsorte“ angewiesen, da nationale Identität nicht naturgegeben ist, d. h. nicht „von selbst“ entsteht. Der Fußball kann als Vehikel zur Produktion kollektiver Identitäten dienen, als Erinnerungsort, der individuelle Erfahrungen und Erlebnisse in einem gesamtgesellschaftlichen und gemeinschaftlichen Kontext verankert und somit hilft, nationale Identität zu kreieren. Der Fußball als Volkssport mit seinen vielen Riten und Symbolen scheint sogar geradezu prädestiniert dafür zu sein, nationale Identität zu stiften – etwa durch die Bildung von Mythen, die sich um bestimmte Ereignisse ranken. Der Fußball produziert Helden, an denen sich ganze Nationen aufzurichten scheinen, bringt Leitfiguren hervor, die sich manchmal gar zu Fußballgöttern verwandeln, lässt Superstars entstehen, die hin und wieder aber auch zu tragischen Helden werden. Was der überschwängliche Jubel im Berner Wankdorf-Stadion 1954 für Deutschland war, das war bei der vorhergegangenen WM 1950 in Brasilien für Uruguay das ungläubige konsternierte Schweigen der Massen im Stadion Maracaná in Rio de Janeiro nach dem Endspiel gegen die Gastgeber, in den Worten Eduardo Galeanos das „tosendste Schweigen in der Geschichte des Fußballs“. Für die über 200.000 Zuschauer im größten Stadion der Welt stand Brasilien als Weltmeister schon vor dem Spiel fest, um so mehr, da aufgrund des Austragungsmodus selbst ein Unentschieden für den Titelgewinn genügt hätte. Ganz Brasilien rechnete fest mit dem größten nationalen Triumph seit der Unabhängigkeit von 1821. Aber 1950 verließen so wie auch 1954 die Spieler, die als krasse Außenseiter ins Finale gegangen waren, als Weltmeister vom Platz. Ausgerechnet Uruguay, ein Land, das aufgrund prosperierender Wirtschaft und demokratischer Stabilität in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts als „die Schweiz Südamerikas“ galt, dann aber einen Niedergang erfuhr und in den 70er Jahren zur Folterkammer Nr. 1 Südamerikas mutierte, steht für die Formel „Wir sind immer noch wer“ in einer Weise, wie das Deutschland von 1954 die Formel „Wir sind wieder wer“ repräsentiert. Im Unterschied zu Deutschland und Uruguay hat es bislang einen Erinnerungsort in Form eines WM-Titelgewinns bislang noch für keine afrikanische Nation gegeben. Sehr wohl aber haben afrikanische Spieler, wie z. B. Roger Milla, zwischenzeitlich den Olymp der Fußballgötter erklommen, haben die Erfolge von afrikanischen Nationalmannschaften bei den letzten Endrundenteilnahmen in einigen Ländern zur Herausbildung eines kollektiven Selbstbewusstseins im Sinne eines „Wir sind endlich wer“-Gefühls beigetragen. Im Bereich des Fußballs erfährt Afrika die Anerkennung, die diesem Kontinent aufgrund der realen und vermeintlichen Krisen ansonsten versagt bleibt. Betrachtet man alle bisherigen Fußball-Weltmeisterschaften von 1930 bis 2002 aus einer sozialwissenschaftlichen Perspektive, so gibt es neben den hier genannten eine Vielzahl von Beispielen dafür, wie gerade der Fußball einer „Nationalelf“ nationale Identität stiften und prägen sowie Integration fördern kann. Schiffer (unter Verwendung wörtlicher Textpassagen)