Abstract

Die Universitaet Goettingen und die Berliner Humboldt-Universitaet gehoerten im 18. Jh. zu den weltweit bewunderten deutschen Bildungseinrichtungen. Insbesondere die Humboldt-Universitaet muss nach Ansicht von Verf. als eine Art geistige Gegenbewegung verstanden werden, denn quasi mit der "physischen Robustheit" des Staatswesens konfrontiert - das neben dem Beamtentum seine "schicksalsbestimmende" Institution in der Armee besass - konnte man einzig im rein "Geistigen" erfolgreich konkurrieren. Der Drang zu dieser kompensatorischen geistigen Hochleistung erlebte durch den Sieg der Restauration nach 1815 und durch das Scheitern der buergerlichen Freiheitsbewegung 1848 einen weiteren Aufschwung. Das Bildungsideal des rein "Geistigen" stand damit einer weitreichenden Tradition einer Leibfeindlichkeit gegenueber, die bereits im Luthertum eine unerhoerte Radikalitaet entfaltete. Ausgehend von diesen kulturgeschichtlichen Zusammenhaengen unternimmt Verf. den Versuch zu zeigen, dass sich dieses leibfeindliche Bildungsideal wie ein roter Faden bis in den Kernbereich der modernen Gesellschaftsentwicklung fortgesetzt hat. Gymnasien und Universitaeten als die grossen buergerlichen Institutionen im Rahmen eines von Monarchie und Adel gepraegten Beamten- und Militaerstaates konnten kaum anders, als sich kompensatorisch ins rein "Geistige" zu begeben. Verf. meint, dass diese historischen Zusammenhaenge und Wechselwirkungen zwischen politischer Kultur und Bewegungskultur auch heute noch in der modernen Gesellschaft am Beispiel des Mangels an Bewegungskultur zum Ausdruck kommen. Lemmer