Beanspruchung von Schiedsrichtern und Schiedsrichterinnen im Fußball

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Bibliographische Detailangaben
Leiter des Projekts:Teipel, Dieter (Universität Jena / Institut für Sportwissenschaft, Tel.: 03641 630110)
Mitarbeiter:Kemper, Reinhild; Heinemann, Dirk
Forschungseinrichtung:Universität Jena / Institut für Sportwissenschaft
Finanzierung:Bundesinstitut für Sportwissenschaft ; Deutscher Fußball-Bund
Format: Projekt (SPOFOR)
Sprache:Deutsch
Projektlaufzeit:01/1995 - 12/1995
Schlagworte:
Erfassungsnummer:PR019960105236

Zusammenfassung

Im Rahmen des Forschungsprojektes werden ausgewählte Aspekte der physiologischen Beanspruchung und psychischen Beanspruchung von Schiedsrichtern und Schiedsrichterinnen im Fußball im Alltag sowie vor, während und nach dem Spiel untersucht.

(Zwischen)Ergebnisse

Nachtrag aus BISp-Jahrbuch 1996: An der Untersuchung zur Analyse der physiologischen Beanspruchung nahmen 5 Schiedsrichter und 6 Linienrichter teil. Es wurden exemplarisch die Ergebnisse von 3 Fußballschiedsrichtern unterschiedlicher Spielklassen dargestellt. Die Auswertung erfolgte im Hinblick auf die Pulsfrequenzen der Schiedsrichter vor, während und nach dem Spiel sowie die ausgewählten Aktionen der Schiedsrichter während des Spiels. Die deskriptive Analyse wurde im Sinne der Einzelfall-Darstellung anhand der spezifischen Spielbedingungen sowie der Pulsfrequenzverläufe und der Aktivitäten der Schiedsrichter vorgenommen. Die physiologische Beanspruchung im Fußball hing grundlegend von den läuferischen Aktivitäten der Schiedsrichter und den spezifischen Situationen des Spiels ab. Die Pulsfrequenzen der Schiedsrichter zu Beginn des Spiels befanden sich in einem Bereich von 130-140 Puls/min. Die maximalen Pulsfrequenzen wurden beim Bundesligaschiedsrichter mit ca. 185 Puls/min. festgestellt. Die Höhe der Pulsfrequenz war jedoch nicht nur von der läuferischen Aktivität abhängig, sondern auch von plötzlich eintretenden kritischen Situationen, wie z.B. verletzten Spielern, reklamierenden Spielern oder protestierenden Zuschauern. Im Spiel der Verbandsliga erreichte der Schiedsrichter in einer vergleichbar kritischen Situation ca. 180 Puls/min. gegen Ende des Spiels. Die maximale Pulsfrequenz des Schiedsrichters des Auswahlspiels betrug 183 Puls/min. bei einem Durchschnitt von 143 Puls/min. In der Halbzeitpause wurde die niedrigste Pulsfrequenz mit ca. 90 Puls/min. ermittelt. Die höchste Pulsfrequenz lag etwa bei 120 Puls/min. während der Halbzeitpause. Zum Zeitpunkt des Abpfiffs waren noch Pulsfrequenzwerte von ca. 150-155 Puls/min ermittelt worden. Wenige Minuten nach dem Spiel lag dieser Wert noch bei etwa bei 115-120 Puls/min. Bei den Aktionen der Schiedsrichter wurden u.a. der direkte bzw. indirekte Freistoß, die Ermahnung, die Verwarnung (Gelbe Karte), der Platzverweis (Rote Karte) sowie der Strafstoß ermittelt. Als häufigste Aktionen des Schiedsrichters im Bundesligaspiel wurden Toraus, Seitenaus und direkter Freistoß herausgestellt. Die erfaßte Häufigkeit war dabei jeweils in der ersten Halbzeit größer als in der zweiten Halbzeit. Die häufigste Aktion des Schiedsrichters stellte dabei die Entscheidung Toraus mit 44 Fällen dar. Im Spiel der Verbandsliga war das Seitenaus mit 65 Situationen die häufigste Entscheidung. Es folgten der direkte Freistoß sowie das Toraus. Im Spiel der Auswahlmannschaften nahm die Aktion Seitenaus mit 55 Fällen den ersten Rang ein. Hierbei waren in der zweiten Halbzeit mit 29 getroffenen Entscheidungen mehr Aktionen ermittelt worden als in der ersten Halbzeit. An der Befragung nahmen insgesamt 53 Schiedsrichter von der 2. Bundesliga bis zur Kreisliga und bis zur Jugendliga teil. Die meisten Schiedsrichter waren in der Bezirksliga und Kreisliga aktiv. Die Schiedsrichter waren im Durchschnitt 33,60 Jahre alt und im Durchschnitt 8,42 Jahre tätig. Bei der Analyse der insgesamt 64 Belastungsbedingungen im Alltag sowie vor, während und nach dem Spiel wurde ersichtlich, daß die Gesamtgruppe der Schiedsrichter insgesamt niedrige bis leicht überdurchschnittlich hohe Grade an Belastung erlebten. Die vergleichsweise höchsten Belastungsbewertungen fanden sich in den Situationen der starken beruflichen Belastung und der unzureichenden körperlichen Vorbereitung auf Spiele im Alltag, der Information über eine fanatische Zuschauerkulisse und der weiten Anfahrt zum Spielort vor dem Spiel. Während des Spiels wurden die Situationen der Gefahr des Verlustes der Kontrolle über das Spiel, des Übersehens einer Grätsche von hinten, des Vorwurfs einer spielentscheidenden Fehlentscheidung und des Elfmeters nach einer deutlichen Schwalbe als am höchsten belastend beurteilt. Nach dem Spiel wurden die Bedingungen der Vermutung einer schlechten Bewertung durch den Schiedsrichterbeobachter und die Erwartung einer negativen Bewertung durch nachgewiesene Fehlentscheidung in der Öffentlichkeit als am stärksten belastend erlebt. Aus Untersuchung der Belastungsbewertungen für die Tätigkeit der Linienrichter ging hervor, daß die Gesamtgruppe der Schiedsrichter die 14 Belastungsbedingungen von kaum bis ziemlich belastend beurteilte. Die höchste Stressbewertung fand sich in der Situation des Werfens der Zuschauer mit Materialien (z.B. Feuerzeugen). Die zweithöchste Belastungsbewertung wurde in der Bedingung festgestellt, wenn der Linienrichter Fehler in der Aufmerksamkeit erkennen ließ. Die dritthöchste Stressbewertung trat in der Situation auf, wenn der Linienrichter nicht immer voll konzentriert war. Ferner beurteilte die Gesamtgruppe die Bedingungen als ziemlich stressend, wenn der Schiedsrichter Zeichen des Linienrichters nach Foul übersah und wenn der Linienrichter Regelwidrigkeiten nicht anzeigte. Überdies wurde die Bedingung von der Gesamtgruppe als relativ belastend erlebt, wenn der Linienrichter seine Aufgaben überschritt. Die Analyse des Zusammenhangs zwischen spezifischen Spielsituationen und Verhaltensweisen wurde anhand von 10 Situationen vorgenommen. Die Summierung der Verhaltensweisen über alle 10 Situationen zeigte, daß die Schiedsrichter die Techniken des Versuchs des weiteren konsequenten Pfeifens und der Reaktion mit einer Strafe am häufigsten auswählten. Die Verhaltensweisen des Versuchs des Tolerierens der Situation und des Versuchs, das Spiel ohne viel Unterbrechungen weiter laufen zu lassen, wurden erheblich seltener als angemessene Reaktionen beurteilt. Die Techniken des Versuchs der Kontrolle der eigenen Nervosität und des Versuchs der Entkrampfung der Situation durch einen lockeren Spruch wurden nur relativ selten angegeben. Die Analyse der spezifischen Verhaltensweisen von Schiedsrichtern ergab, daß die am stärksten bevorzugten spezifischen Bewältigungstechniken im Alltag die Information durch fußballbezogene Radio- und Fernsehsendungen und das Lesen der fußballbezogenen Artikel in Zeitungen und Zeitschriften waren. Vor dem Spiel wurden die Techniken der frühzeitigen Anreise und frühzeitigen Paßkontrolle bevorzugt. Die angemessensten Techniken während des Spiels waren die klaren Entscheidungen und die situationsbedingten Bestrafungen. Als die zutreffendsten Verhaltensweisen nach dem Spiel wurden das ausgedehnte Duschen bzw. Baden und die Aussprache mit den Linienrichtern über das Spiel eingeschätzt. Die Analyse der Bewegungsformen und der Bewegungszeiten ergab, daß der Schiedsrichter der 1. Bundesliga mit ca. 10.400 m zurückgelegter Laufstrecke annähernd in den Bereich von Spielern gelangt. Die Bewegungsformen wurden differenziert in Stehen, Gehen, Traben, Laufen, Sprint, Rückwärtsgehen und Rückwärtstraben. Die Bewegungsform 'Laufen' war eindeutig dominierend. Der Schiedsrichter legte in Form des Laufens 37,9 % der Gesamtwegstrecke zurück. Eine nur sehr geringe Wegstrecke legte der Schiedsrichter mit 333,5 m in Form des Sprints zurück. Dies waren 3,2 % der Gesamtwegstrecke. Bei den Bewegungszeiten wurde festgestellt, daß der Schiedsrichter während des gesamten Spiels 10:32 min stand und 80:59 min in Bewegung war. Die Unterschiede der zurückgelegten Wegstrecke in den beiden Halbzeiten war nur sehr gering. Innerhalb von zwei Minuten legte der Schiedsrichter durchschnittlich eine Laufstrecke von 228,8 m zurück. Innerhalb eines Spiels führte der Schiedsrichter der 1. Bundesliga 169 spielbezogene Aktionen aus. Besonders oft entschied der Schiedsrichter auf Seitenaus bzw. auf Toraus. Weiterhin war die Zahl der direkten Freistöße verhältnismäßig hoch. Im Spiel der 1. Bundesliga gab es 22 mal einen direkten Freistoß. Es wurde ein Zusammenhang zwischen spielbezogenen Aktionen und der Pulsfrequenzen des Schiedsrichters ermittelt. Bei den Aktionen 'Gelbe Karte' und 'Elfmeterausführung' erreichten die Pulsfrequenzen Werte von 163 bzw. 161 Puls/min. Bei den Aktionen 'Spielerwechsel', 'Elfmeterpfiff' und 'Entscheidung auf Tor' wiesen die Pulsfrequenzen aufgrund vorheriger geringer Laufbelastung niedrige Werte auf. Die Werte betrugen 127 Puls/min beim Spielerwechsel, 145 Puls/min beim Elfmeterpfiff und 148 Puls/min bei der Elfmeterausführung. Aufgrund größerer Laufbelastung während des Spiels ergaben sich Pulsfrequenzerhöhungen. Besonders nach langen Läufen bzw. Sprints war dies der Fall. In einer ausgewählten Situation erhöhte sich die Pulsfrequenz des Schiedsrichters nach einem langen Lauf bzw. Sprint bis auf 183 Puls/min. Durch geringere Laufbelastung kam es zu einem Pulsfrequenzabfall. Diskussion mit Schlußfolgerungen: Die Untersuchung ergab, daß Schiedsrichter vor, während und nach dem Spiel mit einer großen Anzahl von Belastungssituationen konfrontiert wurden. Die physiologische Beanspruchung war dabei abhängig sowohl von den läuferischen Aktivitäten als auch von den Situationen bzw. Vorkommnissen des Spiels. Die vorliegenden Befunde legen nahe, die Ausbildung und Fortbildung der Schiedsrichter im Fußball auf möglichst allen Leistungsebenen durch die ausführliche Information über potentiell psychische belastende Bedingungen ihrer Tätigkeit und zweckmäßige allgemeine und spezifische Bewältigungstechniken zu ergänzen. Für die Ausbildung der Schiedsrichter wäre es wünschenswert, wenn vorliegende Untersuchungsergebnisse in die Lehrgänge einfließen würden.