Schwerpunktthema: Forschungstrends II. Forschungstrends in der Sportmotorik (Auszüge aus dem Hauptvortrag „Bewegungskoordination und sportliche Leistung aus der Sicht der Sportmotorik: Eine kritische Situationsbeschreibung der Sportmotorik als wissenschaftliche Disziplin“, 2. Bernstein-Konferenz vom 25.-27.09.1996 in Zinnowitz)

Gespeichert in:
Bibliographische Detailangaben
Autor:Daugs, Reinhard
Erschienen in:Ze-phir
Veröffentlicht:4 (1997), 1 (Forschungstrends II), S. 4-10, Lit.
Format: Literatur (SPOLIT)
Publikationstyp: Zeitschriftenartikel
Medienart: Gedruckte Ressource Elektronische Ressource (online)
Sprache:Deutsch
ISSN:1438-4132, 1617-4895
Schlagworte:
Online Zugang:
Erfassungsnummer:PU201012009458
Quelle:BISp

Abstract

Forschungstrends in der Motorikforschung aufzuzeigen – also in jenem wissenschaftlichen Bereich, der sich um die Bewegungskoordination und um das motorische Lernen bemüht und der schwerpunktmäßig in der dvs-Sektion „Sportmotorik“ organisiert ist – verlangt zunächst nach einer kritischen Bestandsaufnahme der Arbeit. Dass sich für die sportwissenschaftliche Motorikforschung eine Reihe guter Entwicklungsmöglichkeiten ergeben haben und deutliche Fortschritte in diesem Wissenschaftsbereich in den vergangenen 10 Jahren erkennbar sind, erscheint unstrittig. Und dennoch sind Verf. zufolge deutliche Anzeichen einer Krise der Motorikforschung gegeben. Aus Forschungssicht sind wichtige Aspekte dieser Krise 1. die Irritationen durch die kontroverse Diskussion um das Informationsverarbeitungsparadigma, 2. der Mangel an interdisziplinär angelegten Projekten und schließlich 3. das eher größer und komplizierter werdende Theorie-Praxis-Problem. Zu 1: Die „Psychologie der Informationsverarbeitung“ und mit ihr die entsprechende Motorikforschung dominierten über 35 Jahre das wissenschaftliche Geschehen und waren rückblickend wohl eines der erfolgreichsten Unternehmen der Experimentalpsychologie überhaupt. Aber die computeranaloge Modellierung des Menschen als Informationsverarbeitungssystem scheint seinen heuristischen und experimental-methodischen Wert verloren zu haben, und die zentralen Grundannahmen – der Zeitverbrauch der Informationsverarbeitung einerseits sowie die begrenzte Informationsverarbeitungskapazität andererseits – haben sich in empirische und theoretische Widersprüche verstrickt. Die aus ihren entwickelten linearen Stufen- bzw. Ressourcenmodelle finden immer geringere Akzeptanz. Diese Krise problematisiert zugleich auch die zahlreichen als „kybernetisch“ gekennzeichneten Modelle der Bewegungskoordination. Trotz aller Unterschiede dieser Modelle waren die Grundannahmen der Informationsverarbeitung, der Regelung und Steuerung, der Speicherung und zentralen Repräsentation und der hierarchischen Organisation der Kontrolle für alle charakteristisch und lassen sich als Merkmale des sog. „motor approach“ darstellen. In Konfrontation hierzu basiert der sogenannte „action approach“ auf den Überlegungen Bernsteins (1935) zur Freiheitsgradkontrolle, zur Nichteindeutigkeit von Zentrum und Peripherie und zur kontextbezogenen Variabilität, kombiniert diese mit Ansätzen zur „Ökologischen Psychologie“ (Gibson 1966) und setzt dies schließlich in physikalische Ansätze nichtlinearer Systeme mit selbstorganisierter Dynamik um (Haken 1990). Die „Motor-Action-Kontroverse“ als Paradigmenstreit und die empirische und theoretische Problematisierung der Psychologie der Informationsverarbeitung und deren motorikwissenschaftlicher Komponente drängt die Frage auf, wie es mit der „Sportmotorik“ als wissenschaftlicher Disziplin weitergeht. Zweifellos stellen die Ansätze des „action approach“ eine große Bereicherung der grundlagenorientierten Motorikwissenschaft dar. Ein neues, tragfähiges Fundament für eine „anwendungsorientierte Motorikforschung“ lassen sie jedoch noch kaum erkennen. Weder thematisieren sie anwendungsorientiert das motorische Lernen durch Nachahmung (Modellernen), durch extrinsische Rückmeldung (KR), durch Vorstellung (Mentales Training) oder durch Übung (Bewegungsautomatisierung) im speziellen, noch greifen sie die grundlegenden Phänomene, etwa den „Zeitverbrauch“ oder die „Enge des Bewusstseins“ auf und ordnen das gewaltige Puzzle an empirischen Befunden hierzu neu. Die Motorikforschung im Allgemeinen und auch die problem- und anwendungsorientierte sportmotorische Forschung im Speziellen wird sich wohl damit abzufinden haben, dass eine gewisse Zeit empirischer, anwendungsorientierter Grundlagenforschung vor uns liegt, die sich zunächst mit kleinen, lokalen Theorien begnügen muss. Zu 2: Anwendungsorientierte, grundlagenwissenschaftliche Motorikforschung verlangt nach integrativer, interdisziplinärer Bearbeitung. Bewegungskoordination und motorisches Lernen stellen komplexe Phänomene praktisch relevanter Wirklichkeit dar. Sie sind damit Forschungsobjekte stets mehrerer wissenschaftlicher Disziplinen, insbesondere der Biomechanik, der Neurophysiologie und der Psychologie. Anwendungsorientierung und Interdisziplinarität sind somit als gekoppelte Attribute zu verstehen. Die Etablierung interdisziplinärer Arbeitszusammenhänge im Bereich der Bewegungs- und Trainingswissenschaft des Sports wurde vielfach gefordert, vereinzelt versucht und bezüglich ihrer Realisierungsmöglichkeiten immer wieder diskutiert. Die entsprechenden Symposiumsbemühungen der (integrativen bzw. differenzierten) dvs-Sektion(en) „Bewegung und Training“ erscheinen im Ergebnis jedoch eher ernüchternd, und selbst ausdrücklich interdisziplinäre Forschungsaufträge durch das BISp erreichten Verf. zufolge rückblickend bestenfalls additive Multidisziplinarität. So ist wohl insgesamt eher ein Ausdifferenzieren und Auseinanderdriften der einzelnen Disziplinen und die Etablierung jeweils eigener, fachbezogener Fragestellungen, Standards und Methoden konstatieren. Dennoch erscheint die Notwendigkeit interdisziplinärer Kooperation in den Grundlagenwissenschaften dringender denn je, und beste Möglichkeiten und Erfolge zeigen sich bspw. in der grundlegend interdisziplinären Kognitionswissenschaft, die schon durch Psychologie und Neurowissenschaft, Künstliche Intelligenz und Linguistik, Philosophie u. a. m. geradezu definiert ist. Die sportwissenschaftliche Motorikforschung scheint davon noch weit entfernt und der „Sportmotoriker“ ist i. d. R. auf „personifizierte Interdisziplinarität“ angewiesen. Zu 3: Sportwissenschaftliche Motorikforschung ist grundlegend als „anwendungsorientierte Grundlagenforschung“ (oder „technologisch-orientierte Grundlagenforschung“) zu verstehen. Konkrete praktische Fragestellungen und Anwendungsprobleme werden dabei grundlagenwissenschaftlich aufbereitet und in systematische Forschungs- und Entwicklungsarbeit überführt, immer unter dem Leitziel der Beantwortung der praktischen Ausgangsfragen. Ihre zentrale Aufgabe ist dabei die grundlagenwissenschaftliche Aufbereitung des Praxisproblems und dessen systematisch-forschende Bearbeitung, was bisweilen auch als „Vorlaufsforschung“ bezeichnet wurde. Die Bedeutung anwendungsorientierter Theorien und Befunde zeigt sich dabei nicht allein und nicht vorrangig durch die Einlösung wissenschaftsimmanenter, allein grundlagenorientierter Ansprüche wie Selbstthematisierung, theoretische Übersicht und Konsistenz, sondern auch und schließlich durch die Einlösung von Ansprüchen wie praktische Verwertbarkeit, Nützlichkeit, Effizienz, Verlässlichkeit und Routinisierbarkeit. Die sportwissenschaftliche Motorikforschung scheint noch immer auf der Suche nach einer akzeptierten und tragfähigen Position zwischen Praxis und Grundlagenwissenschaft, zwischen praxeologischer Problembearbeitung und theoretisierender Selbstthematisierung zu sein. Eine problematische Abwanderung in diese Pole eines Kontinuums scheint eingetreten, und die angedeutete Positionssuche könnte durchaus zur Zerreißprobe werden. Insgesamt erscheinen Verf. die aufgezeigten Aspekte einer Krise der Wissenschaftsdisziplin „Sportmotorik“ durchaus auch auf die anderen Disziplinen der Bewegungs- und Trainingswissenschaft übertragbar. Schiffer (unter Verwendung wörtlicher Textpassagen)