Interdisziplinäre Theoriebildung – eine Problemanalyse

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Bibliographische Detailangaben
Autor:Nitsch, Jürgen R.
Erschienen in:Ze-phir
Veröffentlicht:8 (2001), 2 (Stellungnahmen zur Interdisziplinarität), S. 18-33, Lit.
Format: Literatur (SPOLIT)
Publikationstyp: Zeitschriftenartikel
Medienart: Gedruckte Ressource Elektronische Ressource (online)
Sprache:Deutsch
ISSN:1438-4132, 1617-4895
Schlagworte:
Online Zugang:
Erfassungsnummer:PU201009006631
Quelle:BISp

Abstract

Interdisziplinarität ist für viele ein Ideal, aber nur für wenige ein handlungsleitendes Motiv. Wunsch und Wirklichkeit, Forschungsprogrammatik und Forschungshandeln liegen offenbar weit auseinander. Verf. fragt, warum dies so ist und was die Integration einzelwissenschaftlicher Verfahrensweisen und Erkenntnisse zu einem bisher nicht befriedigend geklärten Problem macht. Auch fragt er, was eigentlich die Forschungsdefizite, Forschungsinteressen und Forschungsbarrieren sind, die das „Problem Interdisziplinarität“ ausmachen und welche Folgerungen sich daraus ergeben. Nach einer ausführlichen Erörterung dieser Fragen widmet er sich der „wohl entscheidenden Frage der wissenschaftlichen Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses: Welches Wissen und Können sollte wie angeeignet werden?“ Jeder, der Wissenschaft betreibt, sollte über ausreichende Kenntnisse der Wissenschaftstheorie verfügen; jeder, der fachwissenschaftlich arbeitet, braucht die erforderlichen Fachkenntnisse; jeder, der interdisziplinäre Kooperationen eingehen möchte, muss zumindest eine differenzierte Grundvorstellung von den Denk- und Arbeitsweisen sowie den bisherigen Erkenntnissen anderer Disziplinen besitzen. Was die sportwissenschaftliche Nachwuchsförderung angeht, mag es Verf. zufolge in dieser Hinsicht zwar einige Defizite geben, sie sind jedoch nicht das eigentliche Problem. Dieses liegt vielmehr in einem aus dem Sport hinlänglich bekannten Sachverhalt, nämlich jeder, der besondere Leistungen erzielen möchte, muss systematisch und ständig trainieren. Dies gilt, so die These von Verf., auch für den nicht bloß rezeptiven, sondern kreativen Umgang mit Theorien. Die Ansatzpunkte für ein solches (interdisziplinäres) „Theorietraining“ könnten die folgende sein: 1. Die idealtypische Orientierung an Wissenschaftskriterien oder die Einübung in wissenschaftliche Standardmethoden genügen nicht; notwendig ist auch eine differenzierte Kenntnis der (Sozial-)Psychologie des Wissenschaftsbetriebes und somit das Bewußtmachen, was Prinzipien der Wissenschaft („science“) und was Regeln des Wissenschaftsbetriebs („scientific community“) sind. Die Trainingseinheit 1 hieße, an konkreten Forschungsfragen verdeutlicht: „Wissenschaftsbetriebliche Bedingungsanalyse für die Förderung, Durchführung und Ergebnispräsentation eines bestimmten wissenschaftlichen Vorhabens.“ 2. Ein Hauptproblem der Ausbildung liegt darin, dass ihr Schwerpunkt auf der Rezeption von Theorien statt auf der kritischen Auseinandersetzung mit ihnen liegt. Es wäre allerdings ein Missverständnis, Theoriekritik bloß als möglichst schnelles Auffinden der Schwachstellen einer Theorie aufzufassen. Es geht vielmehr darum, unterscheiden zu lernen, d. h. sowohl Schwächen als auch Stärken herauszuarbeiten. Man sollte sich dabei jedoch nicht so sehr darauf konzentrieren, eine Theorie zu bestätigen oder zu widerlegen, sondern darauf, aus ihr Nutzen zu ziehen und sie besser zu machen. Vor allem aber müsste ein theorieanalytischer Hauptakzent darauf liegen, jeweils herauszufinden, auf welchen impliziten Annahmen die jeweilige Theorie beruht. Dies betrifft sowohl das mehr oder weniger verdeckt zugrunde gelegte Welt- und Menschenbild als auch versteckte Analogien und Metaphern, von der Dampfmaschinenmetapher so mancher Emotions- und Motivationstheorien bis hin zur Computer- und Neuronengeflechtmetapher kognitiver Theorien. Die Trainingseinheit 2 hieße somit: „Stärken-Schwächen-Analyse sowie Explizieren implizierter inhaltlicher und formaler Annahmen ausgewählter Theorien.“ 3. Jedes wissenschaftliche Problem hat eine mehr oder weniger lange Problemgeschichte, die man kennen sollte, wenn man wirkliche Fortschritte erzielen möchte. Das heißt, dass es nicht genügt, nur die neueste Literatur zu berücksichtigen, sondern man sollte auch die älteren Quellen studieren. Die Zurückverfolgung eines Problems allein reicht jedoch für dessen angemessene Verortung noch nicht aus. Zusätzlich wäre zu sondieren, wo und wie sowie in welchen Zusammenhängen dieses Problem außerhalb des eigenen Spezial- oder Fachgebietes eventuell sonst noch behandelt wurde. Dies bedeutet aber, die Literaturrecherche nicht nur auf das eigene Fachgebiet zu beschränken. Die Trainingseinheit 3 lautet also: „Historische und systematische Problemverortung.“ 4. Metaphern sind zwar noch keine Theorien, jedoch wichtige Hilfskonstruktionen für die Theorienbildung, die man auch systematisch nutzen sollte. Auch hierin kann man sich einüben, in dem für verschiedene wissenschaftliche Probleme Metaphern gesucht werden, die die jeweilige Problemstruktur veranschaulichen. Die Trainingseinheit 4 hieße also: „Metaphorische Problemcharakterisierung.“ 5. Theorien sollen Zusammenhänge explizieren. Wenn man aktuelle sportwissenschaftlichen Veröffentlichungen durchsieht, gewinnt man den Eindruck, dass zumeist lediglich zwei Arten von Zusammenhängen überhaupt in Betracht gezogen werden, nämlich korrelative und kausale. Zudem bleibt dabei der wissenschaftliche Status der jeweils in Beziehung gesetzten Variablen weitgehend unaufgeklärt. Dies aber ist eine erhebliche Reduktion der möglichen Bedingungs-Folge-Zusammenhänge, die in Theorien (aber auch in empirischen Untersuchungen) differenziert beachtet werden müssten. Hier setzt die Trainingseinheit 5 an: „Differenzierung und Konkretisierung von Bedingungs-Folge-Zusammenhängen.“ 6. Für die gegenwärtige Wissenschaftslage ist eine fortschrittliche Präsentationskultur, aber eine miserable Argumentationskultur kennzeichnend. Gelernt werden sollte, produktiv-kreativ zu argumentieren. Im Hinblick auf die (integrative) Theorienbildung könnten insbesondere folgende Maßnahmen hilfreich sein: (a) Einübung in die Technik des rationalen Widerspruchs, d.h., zu einer vorliegenden (z. B. bisher unhinterfragt akzeptierten) Auffassung wird probeweise die Gegenposition eingenommen und diese dann zu begründen versucht. (b) Integrieren von bisher als alternativ verstandenen Auffassungen, in dem versucht wird, die Widersprüche im Rahmen einer übergeordneten Konzeption aufzuheben, ohne dabei eine der Alternativen vollständig fallen zu lassen. (c) Inbeziehungsetzen von Sachverhalten, zwischen denen bisher keinerlei Zusammenhang gesehen wurde. Solche Übungen wären dann Gegenstand der Trainingseinheit 6: „Konstruktive Argumentation.“ Die Quintessenz seiner Ausführungen sieht Verf. darin, dass interdisziplinäre Theorienbildung nicht die Lösung aller wissenschaftlichen Probleme ist, sondern das Ziel der Lösungsversuche. Schiffer (unter Verwendung wörtlicher Textpassagen)