Sportwissenschaft in gesellschaftlicher Verantwortung

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Bibliographische Detailangaben
Autor:Franke, Elk
Erschienen in:Sportwissenschaftler und Sportwissenschaftlerinnen gegen Doping : Dokumentation des Symposiums am 19. und 20. Oktober 2000 in Köln
Veröffentlicht:Köln: Sport u. Buch Strauß (Verlag), 2002, S. 11-21, Lit.
Format: Literatur (SPOLIT)
Publikationstyp: Sammelwerksbeitrag
Medienart: Gedruckte Ressource
Sprache:Deutsch
Schlagworte:
Online Zugang:
Erfassungsnummer:PU200404001066
Quelle:BISp

Abstract

Im Bemühen, den Sport über seine phänomenale Erscheinung bestimmen zu wollen, hat die traditionelle Sportwissenschaft Verf. zufolge lange Zeit jene Entwicklung übersehen, die u. a. in der Soziologie als ein Übergang vom "Werkzeugdenken" zum "Systemdenken" bezeichnet werden kann. Dieser Übergang ist wesentlich geprägt durch eine Symbiose von Technik als Mittel der Naturbeherrschung und Wissenschaft als aufgeklärter Vernunft in Gestalt der modernen Technologie. Durch diesen Prozess ist längst eine andere Welt entstanden, die Mittelstrass die "Leonardo-Welt" genannt hat. Entscheidend ist, dass sich in dieser Welt nicht nur die Lebensumstände geändert haben, die wir oft als zivilisatorischen Fortschritt genießen, sondern dass diese Verbindung von Technik als Mittel der Naturbeherrschung und Wissenschaft als ein System prinzipieller Wahrheitssuche in Form des neuen dynamischen Systems von Technologie auch eine Form instrumenteller Vernunft entstehen ließ. Sie zeigt sich in zweifacher Weise: 1. durch den Eingriff in die Evolution, z. B. in der Gentechnologie, 2. durch die Produktion neuer Natur, die es vorher auf der Erde so nicht gegeben hat, wie z. B. in der Grundlagenforschung der Atomtechnologie. Bezieht man diese Hinweise zur allgemeinen Entwicklung technologischen Denkens und Arbeitens auf den Bereich ds modernen, wissenschaftlich gestützten Trainings- und Wettkampfbetriebes, ergibt sich eine besondere, meist übersehene Konstellation: Die den Hochleistungssport begleitenden Wissenschaften können die Dynamik moderner Technologie, die letztlich nur die Unendlichkeit des Fortschritts kennt, in ein noch offenes Handlungssystem einbringen. Da dabei das prinzipielle Leistungsprinzip des Sports nur selten zu einem relativen wird, gibt es keine hinreichenden Stoppregeln auf der Handlungsebene von Wettkampf und Training bezgl. individueller Leistungssteigerung. Für die Sportwissenschaft ergeben sich daraus verführerische Konsequenzen: Sie kann, ausgehend vom wissenschaftlichen Versprechen wertneutraler Wahrheitssuche, geprägt durch die technologische Dynamik, einem Handlungsfeld Ergebnisse anbieten, das durch Regeln einer Sonderweltlichkeit allein dem Leistungsimperativ verpflichtet ist und von einem auf Mehrwert ausgerichteten Wirtschaftssystem unterstützt wird. Die Sportwissenschaft besitzt damit - anders als viele andere angewandte Wissenschaften - ein Wirkungsfeld, in dem sich das Fortschrittsdenken der Moderne noch weitgehend ungebremst und scheinbar grenzenlos entwickeln kann. Versteht sich nun die Sportwissenschaft nicht nur als Ingenieurswissenschaft für Optimierungsleistungen im Wettkampfsport, sondern auch als Reflexionsinstanz dieses Steigerungsimperativs, dann bedeutet dies u. a.: Die Sportwissenschaft muss nicht nur das sog. Verifikationswissen (d. h. jenes Wissen, das zum sportlichen Erfolg führt) so aufbereiten, dass es vom sozialen Netzwerk der Trainer und Verbände zur Leistungssteigerung eingesetzt werden kann, sondern sie muss auch das sog. Falsifikationswissen (d. h. jenes Wissen um die Fehler, Rückschläge, Niederlagen) so systematisieren, dass daraus auch die vielfältigen Gefahren in der Möglichkeitswelt der Zukunft extrapoliert werden können. Daraus folgt, dass sie den Forschungsprozess nach beiden Seiten der Erkenntnisgewinnung auf der Basis von trial-and-error offen alten und in systematisch-logischer Weise für eine Prognostik erschließen muss. Erst auf diese Weise wird für eine erfahrungsunabhängige ex ante Präventiv-Verantwortung eine Basis geschaffen, die eine Wahl im Sinne der Willensfreiheit "nach bestem Wissen und Gewissen" ermöglicht. Das heißt aber auch, dass die Verantwortung der Sportwissenschaft im Hochleistungssport - versteht man sie als Präventiv-Verantwortung - nicht nur eine zwei-, sondern eine dreifache Herausforderung ist: Neben der Zusammenstellung von leistungssteigerndem Verifikationswissen und der Systematisierung von Falsifikationswissen zur Optimierung der Wahlmöglichkeit in prognostischen Lebenswegentscheidungen hat sie die Aufgabe, dafür Sorge zu tragen, dass ihr Expertenwissen nicht zum Herrschaftswissen bestimmter Interessenvertreter wird. Daraus folgt, dass auch die Transparenz und Popularisierung entscheidungsrelevanten Spezialwissens (in seiner positiven und negativen Ausprägung) zu den genuinen Aufgaben einer Fachwissenschaft des Sports, die sich ihrer Präventivverantwortung bewusst ist, gehört. Schiffer